TotenRoteln (TOTE STRECKEN)
Ein Gedichtsband von Alfred Gulden /Bettina van Haaren
Tote Strecke(n)
Tod und Kunst und Künstler
1 Gesang
zu Bildern von Bettina van Haaren
Nahe Tode
Widmungsgedichte
Es liege einer auf Leich
damals das war damals
Votivtafelgedichte
von Kopf bis Fuß
Kleine Auswahl aus einem großen Text: TotenRoteln (TOTE STRECKEN), Gedichtsband von Alfred Gulden /Bettina van Haaren
Tote Strecke(n)
Abhanden gekommene Zeit
Den Bahndamm lang: keiner
sammelt mehr die Blüten der
Königskerzen. ...
Nichts mehr, was zählt:
Abfahrt, Ankunft, Umarmungen. ...
Augen auf: Schlag.
Das Gedächtnis der Fotos
Der Geruch des Wachstuchs
auf dem Küchentisch, wo die
Fotos lagen. Schwarz-weisse.
Der Nachbar, Imker, Augentick,
"Den hat er aus dem Krieg",
die Mutter: "Seine Bienen sind
ein Segen für den Garten."
Seine Fotos, Russlandfeldzug,
"Nimm sie ruhig in die Hand.
Hochbrisant. Todesstrafe stand
auf Knipsen für privat." Hier
ein zerschossener Panzer, aus
dessen Turm ein Körper halb
heraushing, aufgedunsen, das
Gesicht verbrannt, ein Klumpen
seine Zunge, und da die Rümpfe
von zwei Soldaten, Puppen,
die in dem Boden steckten,
und an ein Geschütz gelehnt,
als hätt er Halt gesucht, steht
einer, der Kopf halb weggeschossen.
"Schau hin. Das ist der Krieg."
Und ich schaute hin. Genau.
Der Film ist zu Ende. Die Leinwand ist weiß.
Es bleiben Bilder, die erzählt werden wollen.
...
Die rettende Leiter über das Eis.
Meine Brust ist eine Blutorange, sagt die Frau
und sieht den Fuchs, der im Garten steht.
Unbeweglich. Seine roten Haare sträuben
sich im Frühlicht. ...
ODuLamm ODuLamm ODuLamm tönt und das viel-
farbige Bunt beginnt zu zerfließen, sich aufzulösen,
verschwindet im Raum, und auch die Frau beginnt
zu zerfasern, sich aufzulösen, verschwimmt, verschwindet.
Und der Raum ist weit und weiß und leer. Und das
Rauschen ist stark, stärker, allmächtig. ...
Vaters Vater ist gefallen
1916 an der Somme.
Grabenkrieg. An einem Tag
zigtausend Mann Verlust.
Auf beiden Seiten. Gewinn
am Ende- kein Meter Land.
Es kam mir in den Sinn
das Kinder-Wiegen-Lied.
Die Alte Saar fließt immer noch.
Die Kormorane fischen.
Und er ist nicht mehr da.
Und sie ist nicht mehr da.
Gedanken, die verwischen
und klaren auf
und sind inzwischen
verwunschen doch.
Du sagst nichts mehr: du bist
nur noch Gedanke, Farbe, Bild.
Wir stehen da und sehen
den Neujahrsmorgen und Kalvaria,
und wissen nicht, was du jetzt weißt,
und zweifeln noch, und glauben doch
den Christuskopf zweifach.