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Josef Reindl

Ein unglaubliches Leben: Karl Marx und die Seinen
Klaus Gietingers Roman „Karl Marx, die Liebe und das Kapital“

Karl Marx, der ungeliebte Sohn der Stadt Trier, besitzt auch 200 Jahre nach seiner Geburt und 135 Jahre nach seinem Tod noch eine ungeheure Faszinationskraft. Er hat das Denken in seiner Zeit und die Welt nach seiner Zeit umgepflügt und Bataillone von Wissenschaftlern und Philosophen auf den Plan gerufen, ihn entweder zu widerlegen oder einzugemeinden. Das Jubiläumsjahr 2018 legt Zeugnis davon ab, indem es mit einer unüberschaubaren Flut von Publikationen aufwartet, die Marx historisieren oder aktualisieren wollen, die ihm ihre Aufwartung als großer Theoretiker, aber schlechter Praktiker machen, die ihn anklagen ob der Gewalt, die das kommunistische Menschheitsexperiment in der Sowjet-Union und anderswo begleitet hat, oder die ihn in Schutz nehmen und die Oktoberrevolution als eine Betriebsunfall der Geschichte hinstellen, mit der der ‚Demokrat‘ Marx nichts zu tun hätte. Summa summarum lassen sich aus der ‚geistigen Überproduktion‘ anlässlich seines zweihundertsten Geburtstag drei Haltungen herausdestillieren: eine affirmative, die sich nur noch wenige einzunehmen trauen, nämlich diejenigen, für die die Dummheit der Kommunisten kein Argument gegen den Kommunismus ist, eine kritische, die versucht, Marxens Aktualität für die Erklärung der modernen Zeitläufte nachzuweisen und eine vereinnahmende, die ihn zum einen immunisiert gegen die Folgen seiner ‚Lehre‘ und zum anderen ihm den revolutionären Stachel nimmt und versucht, ihn zu versozialdemokratisieren.
Aus der Art dieser Rezeptionsmuster schlägt das Buch von Klaus Gietinger. Er, der im Hauptberuf Filmemacher ist, geht das belletristische Wagnis ein, das stürmische persönliche, geistige und politische Leben von Marx in eine Romanhandlung zu überführen. Und zwar nicht in irgendeine Romangattung, sondern in ein Genre, das man mit Marx zunächst gar nicht in Verbindung bringt: den Liebesroman. Genau genommen erzählt der Autor von den emotionalen, psychischen und körperlichen Beziehungen zwischen historischen Personen, sei es die tiefe Liebe, die zwischen dem Bürgersohn Marx und der vier Jahre älteren Adligen Jenny von Westphalen über ein ganzes Leben hinweg bestand, sei es die rührende und oft vergebliche Sorge des Pater Familias Marx um seine Kinder, sei es die innige Freundschaft zwischen dem immer am Hungertuch nagenden Marx und dem Kapitalistensohn Engels, sei es die Vielweiberei Engels und sein uneheliches Verhältnis zur Fabrikarbeiterin Mary Burns, sei es die Treue, mit der die Haushälterin Lenchen Demuth auch dann noch zur Familie stand, als Marx nach seinem ‚Fehltritt’ ihren gemeinsamen Sohn Frederik verleugnete, seien es die vielen Feind-Freundschaften, die Marx mit seinen intellektuellen Zeitgenossen pflegte, sei es das Verhalten von Jennys Halbbruder Ferdinand, der im Auftrag des preußischen Staats Marx gnadenlos verfolgen ließ, aber im letzten Moment aus Sympathie für Jenny auch abdrehen konnte.

Freilich ist die Kategorie ‚Liebesroman‘ zu dürr, um das Werk von Gietinger angemessen würdigen zu können. Gietinger interessiert das ganze Leben von Marx und dazu gehört natürlich genuin seine geistige Produktion. Wie sein intellektuelles Wirken, seine Lebenswelt, sein Liebesleben, seine politischen Interventionen ineinander verwoben sind, dieser Riesenaufgabe versucht der Autor mit einer Methode gerecht zu werden, die ich literarische Bricolage nennen möchte. Sie umfasst nicht-fiktionale Texte etwa bei der Wiedergabe von Zitaten aus den Werken von Marx/Engels, fiktionale Spielszenen und Fragmente reiner Romanerzählung. Sie ähnelt damit der filmischen Doku-Fiction, also der mit Spielszenen angereicherten Dokumentation und von daher kann man von Gietingers Werk durchaus als Dokumentarroman mit theatralen Elementen sprechen. Dazu passt, dass im Roman die Erzählperspektive ständig wechselt. Die Geschichte wird erzählt vom Ich-Erzähler Friedrich Engels, vom auktorialen Erzähler (Autor), aus der Sicht von der Marx-Tochter Tussy (Eleanore) und daneben gibt es noch die Perspektiven von neutralen und personalen Erzählern. Die verschiedenen Erzählperspektiven wirken dabei wie verschiedene Kameraperspektiven im Film.
Der Kunstgriff, den Gietinger anwendet, besteht darin, dass er am Krankenbett von Engels ihn und Tussy über das Leben des ‚Mohr‘ und der Seinen erzählen und sinnieren lässt. Diese Ausgangskonstellation ist selbst wieder Teil einer Geschichte, nämlich des Versuchs der deutschen Sozialdemokratie, sich der eigentlich Tussy und ihrer Schwester Laura zustehenden Hinterlassenschaft von Marx zu bemächtigen. In gewisser Weise bildet diese Erbschleicherei der Sozialdemokraten, die Engels letztlich nicht abwehren kann, die Rahmenhandlung des Romans. Engels, der weiß, dass sein Leben zu Ende geht, fühlt sich bemüßigt, Tussy alle Seiten des Lebens ihres Vaters nahezubringen und Tussy färbt diese Erzählungen mit ihren Erinnerungen und Deutungen. Auf diese Weise gelingt es dem Autor, ein pittoreskes Panorama historischer Ereignisse und persönlicher Erlebnisse, einen Reigen an ‚menschlich allzu menschlichen‘ Begebenheiten zu zeichnen und gleichzeitig basale Einsichten in das Marx’sche Denken zu vermitteln. Engels und Tussy schlagen das Buch eines unglaublich reichen und überfüllten Lebens auf und arbeiten sich darin vom Liebeswerben um Jenny bis zum Tod von Marx vor. Marxens Leben tritt uns in kurzen prägnanten Szenen gegenüber, die alle wesentlichen Stationen und Abschnitte seines Wirkens enthalten. Die Sprache, die der Autor dabei einsetzt, ist klar, unprätentiös, verständlich, auch wenn er - wie damals üblich - mit englischen und französischen Einsprengseln arbeitet. Gietinger umschifft souverän die Untiefen des Genres ‚Liebesroman‘; es wird nie schwülstig, romantisch oder gar schlüpfrig, dafür manchmal ganz schön deftig und ordinär.

Was in den Kurzszenen, die die Person Marx, seine Familie, das intellektuelle und politische Milieu, in dem er agierte, die Lebenswelten, in die er hineingeriet, ausleuchten, besonders haften bleibt, ist ein enormer Widerspruch, der das Leben von Marx durchzog. Er hat die ‚menschliche Tragödie‘ am eigenen Leib erlebt: Flucht (nach Paris vor der deutschen Enge), Vertreibung (aus Köln, Paris und Brüssel), Verfolgung (durch die preußische Geheimpolizei), bittere Not, Krankheiten aller Art, den Tod von vier Kindern. All das würde locker ausreichen, um in Resignation und Depression abzugleiten. Aber das Unglück, das ihn so oft heimgesucht hat, hat ihn nicht von seinem prometheischen Vorhaben abgehalten, die Welt aus den Angeln zu heben und Werke zu schaffen, die noch viele Generationen nach ihm in ihren Bann schlagen. Wer so etwas vollbringt, ist in aller Regel kein einfacher Mensch. Der Roman von Gietinger bietet dafür reichlich Anschauungsmaterial. Marx wird darin nicht heroisiert, sondern menschlich gemacht. Die Maßlosigkeit, die er dem Kapital attestiert hat, war auch ihm eigen: im Denken, wo er keinen Besseren neben sich ertragen konnte, im Geld ausgeben, wo er (und Jenny) beständig über seine (ihre) Verhältnisse lebte(n) und damit ein dauerndes Rendezvous mit dem Elend einging(en), im politischen und intellektuellen Streit, wo er seine Gegner abkanzelte, der Lächerlichkeit preisgab und regelrecht ‚vernichtete‘, im Schreiben, wo ihn sein Perfektionismus lähmte. Marx mutete seiner Umgebung viel zu, soviel wie auch sich selber, was ihn häufig an den Rand der Erschöpfung, in die Verzweiflung und Krankheit führte. Er, der die sozialste Sozialtheorie der Welt entwickelt hat, war oft unfähig zur Empathie und nur auf sein Leid fixiert, was um ein Haar die Freundschaft zu Engels in Mitleidenschaft gezogen hätte, als Mary Burns starb und Marx in seiner Antwort auf diese Benachrichtigung sich in Selbstmitleid erging. Ganz zu schweigen von seinem Verrat an seinem unehelichen Sohn Freddy, den Lenchen Demuth zu einer Trinkerfamilie weggeben musste. Freddy war trotz dieser schmählichen Behandlung später einer der Treuesten, der ganz im Sinne von Marx gearbeitet hat und einer der Begründer der englischen Labour Party war.

Gietinger beschreibt diese Verhaltensweisen von Marx ohne moralinsauren Unterton, ohne psychologisierendes Beiwerk. Er mischt sie seinen anderen Charakterzügen wie seiner sprichwörtlichen Großzügigkeit, seiner anteilnehmenden Liebe für die Kinder, seiner Treue für Jenny bei und erzeugt so ein realistisches, ein menschliches Bild des zur Ikone gewordenen Marx.
Ein anderer spannender Eindruck, den der Roman hinterlässt, ist die ‚Reifung‘ von Marx. Schon in seiner Sturm- und Drangzeit gehörte er politisch nicht zu den Abenteurern, die wie Weitling, Herkenrath u.a. mit Waffen gegen den absolutistischen Staat losschlagen wollten und sich nur blutige Abriebe holten. Später, nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution verlegte er sich auf die wissenschaftliche Arbeit im British Museum, mit der er das Bewegungsgesetz des Kapitalismus herausfinden und die herrschende ökonomische Lehre umstürzen wollte. Zwar war er auch in der langen Zeit der Abfassung des ersten Bandes des Kapitals politisch unterwegs u.a. bei der Gründung der Ersten Internationale oder durch seine journalistische Arbeit bei der New York Daily Tribune, doch man wird im Roman den Eindruck nicht los, dass Marx das Proletariat und seine Vertreter als nicht reif für die Revolution einschätzt. Nachdem durch die Pariser Kommune die Hoffnung auf die baldige Machbarkeit des Kommunismus noch einmal aufgeflackert ist, begräbt Marx sie spätestens mit dem Gothaer Programm der vereinigten deutschen Sozialdemokratie, an dem er kein gutes Haar lässt. Könnte es sein, dass Marx die Arbeiten an seiner ökonomischen Theorie deshalb so vorangetrieben hat, weil er die politische Praxis seiner Weggefährten als wenig weiterführend betrachtete?

Gietingers Roman ist gerade auch wegen der theoretischen Einschübe über Marxens Werk ein Lesevergnügen. Man schmunzelt über den missratenen Versuch des Frauentausches, freut sich diebisch über die tolpatschigen Spitzel, vor allem Stieber, runzelt die Stirn ob der antisemitischen Anwandlungen des zum Protestantismus konvertierten Juden Marx, man leidet mit den Eltern, deren Kinder fast wie die Fliegen sterben, es verschlägt einem die Sprache ob der Schilderung der Zustände im „Juggernaut-Rad des Kapitalismus“ in Manchester, man wundert sich über Jenny, die aus Standesgründen Mary Burns zurückweist, fühlt sich ganz nah bei Marx, als er über dem Studium der Herr-Knecht-Dialektik bei Hegel buchstäblich zusammenbricht, man lacht laut auf, als Lenchen Demuths Betrachtungen zum Kochtopf, der macht was er will, in den Fetischcharakter der Ware münden, es stockt einem der Atem, wenn der Autor die Abfassung des Kommunistischen Manifests und die Fieberträume von Tussy parallel schaltet und die Marx-Tochter vorausahnen lässt, welchen Wahnsinn der Kapitalismus noch hervorbringen wird, man staunt über eine andere frivole Parallelschaltung von Marxens Reflexionen über Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse und Engels produktiver Arbeit im Bett einer Hure.

Kurzum: Gietinger hat einen leichten und anspruchsvollen Roman geschrieben, der den Marxunkundigen schelmisch und verschmitzt auf die Fährte seines Denkens führt und der für den Marx-Kundigen reichhaltigen Stoff aus dem prallen Leben eines gar nicht vergeistigten Großdenkers bereit hält, der i.d.R. unter die Aufmerksamkeitsschwelle der Linken fällt. Da kann man es ihm auch nachsehen, dass sich kleinere Ungenauigkeiten in der Vermittlung der Theorie eingeschlichen haben, wie die Sache mit der Religion, die eben nicht Opium fürs Volk, sondern Opium des Volkes ist, ein Unterschied ums Ganze oder die andere Sache mit dem Sein und dem Bewusstsein. Das Sein bestimmt das Bewusstsein nur in einer verkehrten Welt, die kein bewusstes Sein zulässt. Marx ist der beste Beweis für die Kraft des Bewusstseins, sich über das Sein zu erheben und es in seiner Verkehrtheit zu durchschauen.

Gietinger, Klaus: „Karl Marx, die Liebe und das Kapital“, Westend Verlag GmbH, Frankfurt a.M. 2018, 351 S., 22 Euro