Ausgang

Mai 2010 „Wie gehe ich mit Größe durch den Schund der Zeit?“

„Königin im Dreck“ – ein Band mit Aufsätzen von Ronald M. Schernikau

Von Stefan Gleser

Schlecht an Schernikau ist, dass es schwer fällt, über ihn zu schreiben, ohne in den Jargon des faselnden Bildungsgeschwafels, unter dem er litt, zu verfallen. Vergleicht man einen Text Schernikaus aus den achtziger Jahren mit den damals handelsüblichen Kritiken, mit den Gedichten über Frieden und Umwelt, die in Zeilen gebrochene Prosa waren, mit den kulturgesättigten Feuilletons, die Denkanstösse vermittelten und kritisch hinterfragten, wird klar, dass Schernikau ungern Zeitgenosse war.

Gut an Schernikau ist, das ich ihn so vorstellen kann, wie er die Schriftstellerin Gertrude Stein vorstellte. Ronald M. Schernikau lebte von 1960 bis 1991, er war ein Deutscher und sehr dünn und ziemlich arm, er lebte in Berlin und Leipzig, er liess sich manchmal den Oberlippenbart kürzer schneiden und er übte den Beruf des Genies aus.

Der Verbrecher Verlag hat jetzt Aufsätze, Reportagen und Gespräche Schernikaus gesammelt. Viele davon sind in der DVZ/die tat, einer ehemaligen, der DKP nahe stehenden Zeitung erschienen.

Selbst in einem dummen und verlogenen Schlager steckt „das ungeheure sichsehnen nach Glück“. Für Schernikau ist die Verachtung der Linken gegenüber der Massenkultur „selbstmörderisch“. Der müde und abgestumpfte Alltag verzehrt sich nach Glamour und Pop. Tagträume verkörpern sich in Hildegard Knef, Andy Warhol und Romy Schneider. Deshalb erobern die Götter aus den Hochglanzmagazinen und den Fernsehnkanälen die Köpfe und das schlechte, aber gut gemeinte Gedicht gegen die Mietpreiserhöhung bleibt unbeachtet.

In seinem Beitrag über die Schlager in der DDR spricht Schernikau zum Leser, als sei dieser ein angehender Musiker. Schernikau stellt eine private Hitparade auf. Ich habe laut lachen müssen, als er auf die Schlagersängerin Aurora Lacasa traf. Wir schalten um zum live-Dialog:

Lacasa: „Du und ich, das ist Tannengrün und Hagelschlag“
Schernikau: Oh nein!
Lacasa: „Du und ich, das ist ewig wie der Sonnenschein“
Schernikau: Au weia!:
Lacasa: „…ist in der Kathedrale ein Choral“
Schernikau: Peinlich! Dicht vorbei!

„Oh nein!“ und „Au weia“ erreichen eine ungeheure Leichtigkeit, als seien sie zum ersten Mal gehört. Das macht, Schernikau konstruiert äusserst exakt.

Ein möglicher Einwand gegen Schernikau: Sein Ausdruck ist nur die Umkehr der Edelschickimickiprosa und des läufigen Seminarstils. Schernikau kokettiert mit seiner Bescheidenheit. Er schreibt, als hätte er vorher alles Gelesene aus seinem Gedächtnis gefegt.

Die makellose Folgerichtigkeit der Gedanken, wenn er auf dem letzten Schriftstellerkongress der DDR sagte, dass wer Bananen will, Neger hungern lassen muss. Und wir glauben an wirtschaftliche Zusammenarbeit und dass Fischfabriken die Ozeane und Getränkehersteller die Regenwälder retten, so wie unsere Grosseltern an die Ostmark glaubten.

Bei Schernikau überlebt der Stoff, weil für ihn die Form alles war. Deshalb ist selbst ein zwanzig Jahre alter Bericht über Bäckereien aktuell. „Der Weg der Brötchen in den Sozialismus“ erzählt auch davon, dass Backwaren in der DDR zu billig waren. Alle, mit denen Schernikau sprach, ob selbständiger Bäckermeister oder Mitarbeiter eines Kombinats plädierten für eine Preiserhöhung. „Von zehn Pfennig für ein Brötchen verhungert bei uns keiner.“ Und noch immer diese Wut auf einen Staat, in dem keine alte Frau an der „Tafel“ bettelte.

Schernikau bekannte sich offen zur Homosexualität und zum Kommunismus und schrieb keine einzige Zeile Bekenntnisliteratur. Schernikau wird seinem Brieffreund und Kollegen Peter Hacks dort wieder treffen, wo ihnen Gesinnung die Aufnahme zu Lebzeiten verwehrte, im bürgerlichen Kanon. Demnächst wird ein Film über Schernikau rumflimmern; eine Biographie liegt vor und sein alter Hausverlag kennt ihn wieder. Genau so wie es Schernikau schrieb:

die nachwelt
die nachwelt wirds schon richten
die nachwelt machts schon gut
die nachwelt die macht alles
was sonst keiner gerne tut
die nachwelt wirds schon richten
wir haben ja zum glück
die gute alte nachwelt
unser bestes stück

Ronald M. Schernikau: Königin im Dreck. Texte zur Zeit. Hg. von Thomas Keck. Verbrecher Verlag, Berlin 2009. 304 S. ISBN: 978-3-940426-34-5. 15,00 Euro

Stefan Glesers Buchrezensionen - Sieben auf dieser Seite
 

Juni 2010 „Stadt – Land – Rechts“ berichtet über Nazis in der Provinz

Der Vormarsch in die Normalität

Buchbesprechung von Stefan Gleser

Entlang der Weinstrasse marschierten sie auf; in Pirmasens und Homburg waren ihre Fahnen zu sehen, und in Herrschberg mieteten sie ein Haus als Stützpunkt. Darüber wie die Braunen vermeintlich unaufhaltsam das flache Land erobern, erzählt der Sammelband „ Stadt – Land – Rechts“.Darin untersuchen Journalisten, Politiker und Wissenschaftler Selbstdarstellung und beliebte Angriffsziele der Rechten und sammeln Momentaufnahmen aus den Regionen. Bayern bietet das erwartete Panorama: Die örtliche Zeitung artikelt über schwarzbraune Haselnuss-Stammtische, an denen Honoratioren ihre Schweinebraten verzehren, im Stil der Hofberichterstattung. Der „Runde Tisch Dingolfing“ präsentiert sich als Brücke von Konservativen aus CSU und FDP über Heimatvertriebene, frustrierten Bauern und Rechtspopulisten bis zur extremen Rechten. In Bayern steht für Verwaltung und Polizei der Feind links.

Andreas Speit informiert über Neonazis in Schleswig-Holstein, wo Behörden beschwichtigen und zivilgesellschaftliche Gegenwehr sich mühsam behaupten muss. Polizei und Justiz bewerten rechtsextreme Straf- und Gewalttaten auffallend häufig als übliche Schlägerei bei Dorf- und Volksfesten oder Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen. Dementsprechend agiert die lokale Presse mit Verschweigen oder Kleinreden.

Die Graswurzelstrategie, die Devise „Alle Macht ist lokal“ liess die NPD in manchen Gegenden Thüringens zu einer anerkannten Grösse werden. Die Rechten bedienen sich dabei der Illusion, es gäbe „politikfreie Zonen“ und handeln so scheinbar bürgernah, sachlich und problemorientiert. Gegen die Schliessung des Theaters, gegen eine Schweinemast, gegen die Müllverbrennung, gegen die Windkrafträder. Nur bei sorgfältigster Prüfung solcher Aktionen lässt sich der rechtsextreme Hintergrund erkennen. Als Gegengift empfiehlt Marita Renner die Vergangenheit der Biedermänner zu publizieren. Wer heute den rührigen Kommunalpolitiker gibt, war früher oft im wahrsten Sinne des Wortes ein Brandstifter.
Die „Kommunalpolitische Vereinigung“ (KPV) der NPD definiert sich als Kaderschmiede für künftige Nazigrössen im lokalen Bereich. Schulung der Mandatsträger in Rhetorik und Kommunalrecht, genaue Beobachtung des politischen Gegners und Vorlagen für Anträge gehören zu den Aufgaben der KPV. Bei der NPD wandern Textbausteine über „Rückführungsbeauftragte“ und „Stolpersteine“ von Ratssaal zu Ratssaal. Die extreme Rechte sickert in die Politik vor Ort ein. Mehr als 250 ihrer Vertreter sorgen in den Kommunen und Kreistagen für eine schleichende, unauffällige Gewöhnung. „Brauner Tropfen höhlt den Stein“, wie die Verfasser schreiben.
Fussball ist ein Einfallstor der Rechten ins politische Vorfeld. Martin Endemann und Gerd Dembowski waren dort, wo noch nie das „Aktuelle Sportstudio“ war, auf den holprigen Plätzen in der Provinz. Dort hungern die Jugendlichen nach Erlebnis und Action und diese Köder werfen die Nazis aus. Die Propaganda auf dem flachen Land bietet viele Vorteile: Kurze, preisgünstige Anfahrtswege, kein Polizeiaufgebot und keine gegnerischen Fans, die mildernd eingreifen. Niedrige Zuschauerzahlen garantieren hohe Aufmerksamkeit für`s rechte Gegröhl und der Gastgeber wünscht selten Öffentlichkeit über solche Vorfälle. Inzwischen gibt´s Fussballturniere wie „Kicken gegen Links“, „nationale Vereine“, die Fördermittel abgreifen und gemeinnützig sind, und rechte Ehrenamtliche, die sich in kleinen, personal- und finanzschwachen Vereinen als unentbehrlicher Helfer gerieren können.
Parallel zu dieser Unterwanderung entlädt sich gewalttätige Wut gegen Klubs, deren Namen allein schon verhasste Tradition sind wie Makkabi Berlin oder Roter Stern Leipzig.

Der bei allem Engagement ruhige und sachliche Ton des Buches wird anrührend und empathisch, wenn Opfer rassistischen Terrors von ihrem Leid erzählen. Für politisch Verfolgte, die gehetzt und geschlagen wurden, beginnt nach dem Trauma der Misshandlung der Kampf mit den Behörden. Es fehlt das Geld für eine Nebenklage, Fachanwälte mit Sprachkenntnissen praktizieren meist in den grossen Städten und die Verwaltung bearbeitet den Antrag auf Umzug quälend langsam. Zum lähmenden Gefühl sich ständig in einem Wartezimmer zu befinden, wie ein geduldeter Asylsuchender sein Leben in Deutschland charakterisiert, gesellt sich der Schock, dass der Alltagsrassismus, der sich in kleinen Gesten und Bemerkungen im Bus oder auf der Strasse gezeigt hatte, urplötzlich in tretende Stiefel, niederfahrende Basketballschläger und Fausthiebe wandelte. Und so entsteht im Kopf aus Erinnerung und Vorstellungskraft jene Angst, die einflüstert, aus jedem Winkel, aus jeder Ecke des Ortes, der einem eh nicht gastfreundlich aufnahm, könne wieder eine Nazimeute hervorbrechen.
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„Braun“ ist in Bewegung und vielgestaltig. Der Opa hört unterm Hirschgeweih Marschmusik und die zwanzigjährige tanzt Hiphop. Diesen schillernden, ständig fliessenden, vom Treffen an der Bushaltestelle bis zum Parteitag reichenden Prozess umreisst Frieder Burschel so:

„Die neonazistische Bewegung in Deutschland macht eine rasante, wenngleich enorm widersprüchliche Entwicklung durch, deren Dynamik noch weit tragen könnte. Zwischen biederer Professionalisierung und rassistischen Gewaltausbrüchen reiht sich da der gescheitelte Parlamentsabgeordnete neben dem `freien Kameraden`, der HJ-Fan in bündischer Kluft neben dem ´Autonomen Nationalisten` ganz in schwarz ein, der ewig-gestrige „Alte Sack“ neben dem alerten Kommunalpolitiker, die brutpflegende Stammesmutter neben der kämpfenden Kameradschaftsführerin, der Zupfgeignhansel neben dem NS-Blackmetal-Rocker, der besoffene Nazi-Skin neben dem braunen Jungunternehmer, der treu-doofe Bannerträger der Bewegung neben einem IT-bewanderten Rechtsterroristen.“

Symbole und damit auch ihre Vorstellungen der extremen Rechten wuchern wie ein Krebsgeschwür immer mehr in die Mitte hinein. Dort wo nur frisierte Arbeitslosenzahlen gedeihen, dort wo zum Monatsende für viele Familien Nahrungsmittel Einkaufen, anstehen an der Tafel heisst, dort wo der letzte unangepasste Jugendliche wegzieht, in diesen, man muss schon Politiker sein, um auf diese Formulierung kommen, in „strukturenschwachen Entleerungsräumen“ ist der demokratische, gesittete, auf zivile Umgangsformen beharrende Alltag nur noch ein schöner Traum.. Versandhandel und Rechtsrock sind längst nicht mehr die einzigen Waffen, um Menschenrechte anzugreifen.

Die vielen anschaulichen und übertragbaren Beispiele aus der Praxis machen „Stadt Land Rechts“ zum Handbuch für die Antifa vor Ort.

Friedrich Burschel (Hrsg.)
Stadt – Land – Rechts. Brauner Alltag in der deutschen Provinz
Dietz-Verlag, Berlin 2010, Texte 63 der Rosa-Luxemburg-Stiftung, 192 Seiten, Broschur, 14,90 Euro, ISBN 978-3-320-02201-3

April 2010 - Michael Scharang: "Komödie des Alterns"

Niederlage mit Happy End

Von Stefan Gleser

Es ist jammerschade, dass jemand, der so kühne und neue Gedanken vorbringt, und so sinnlich spürbar über die Arbeit am Hochofen, diese leibhaftige Versaftung des Menschen, oder eine Wanderung in den Alpen berichtet, plötzlich aussetzt: es gibt dann tatsächlich „die Labung in den Arbeitspausen“ und Leuten, denen es nicht nach Wein gelüstet, schreiten zur Vorspeise. Zuweilen entsteht der Eindruck, Scharang wolle die korrekte Wiedergabe der indirekten Rede erhalten wie eine vom Aussterben bedrohte Tierart. So, genug des Nölens, jetzt erst mal die Geschichte. „Komödie des Alterns“, der neue Roman des Österreichers Michael Scharang, erzählt aus der Rückblende eine Freundschaft zwischen zwei Männern, die nach über vierzig Jahren vor dem Scheitern steht.

Heinrich Freudensprung, österreichischer Schriftsteller, und Zacharias Sarani, Ingenieur aus Ägypten, begegnen sich zum ersten Mal im Stahlwerk Böhler in Kapfenberg in der Steiermark vor über vierzig Jahren. Freudensprung stammt aus einer roten Arbeiterfamilie; Saranis Elternhaus ist reich und unterhält beste Beziehungen zur Regierung. Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft: „ Gemeinhin seien die Menschen einander zugetan in Liebe, Sexualität oder durch Interessen … Sie beide, Heinrich und Zacharias, verbinde nichts. Das sei Freundschaft.“. Sarani, der wie Scharangs Vorbild Robert Musil, Maschinenbauer wird, gründet nach dem Studium zuerst in Graz eine Firma, die keinen Chef kennt. Das wird Sarani von jetzt an umtreiben: Etwas ausserhalb der „grotesken Wirtschaftsordnung“ zu schaffen.

In seiner Heimat, inmitten der Wüste baut er sein Lebenswerk auf Sand: Eine Farm, die, gespeist von unterirdischen Brunnen, wunderbar gedeiht. Für die ägyptischen Mitarbeiter gibt´s Gewinnbeteiligung und soziale Standards. Die Architektur vom offenbar faszinierenden Servierwagen bis zum Haus stammt aus Europa. Die heimische Oberschicht weiss nicht so recht, ob sie an Importlizenzen oder inländischer Produktion mehr verdient. Die Farm soll wirtschaftlich eine „Akademie“, eine Art Gelehrtenrepublik, stützen. Die Einheimischen wollen lieber hier und heute mehr Geld. Die Armut kennt keine langfristige Investition.

Die so lange gepflegte Freundschaft, die sich in edel gedrechselten Briefen, von denen keiner erwähnt wird, niederschlägt, zerbricht, als Freudensprung in New York mit ansieht, wie ihm der Sohn Saranis die junge Geliebte wegnimmt. Und Sarani vermutet, Freudensprung hintertreibe das Akademieprojekt. Es folgt eine Aussprache im Kairoer Flughafen. Am Tisch der beiden sitzt das verklärungssüchtige Altern und dann kommt noch der Tod in Gestalt eines Auftragsmordes hinzu. Die Freunde entkommen zur Farm und ein Festessen beschliesst, wie es sich für eine Komödie schickt, den Roman versöhnlich und heiter.

Mal erzählt ein Philosoph, mal philosophiert ein Erzähler. Scharang lässt Sarani und Freudensprung über Gott und die Welt reden. Scharang schickt Sarani vor, wenn es gilt, den Unterschied zwischen Zufall und Zufälligkeit oder den von Neuerung und Erneuerung zu erläutern. Durch diesen Trick ist die Kritik vor der Kritik gefeit. Dem Ägypter, der Deutsch erst lernen musste und es in Österreich perfektionierte, glaubt man gern, die Feinheiten des Ausdrucks besonders aufmerksam zu verfolgen. Und Freudensprung beobachtet unsere Elite, wie sie sich selbst züchtet: „Er verstieg sich zu der These, dass, wo immer es zu einer Auslese unter Menschen komme, diese negativ sei, denn es würden nur die ungeschlachten, empfindungsarmen, denkfaulen Charaktere überleben, so dass die Menschheit von Generation zu Generation an Urteilsfähigkeit verliere, doch um so zielstrebiger handle.“ Überprüfen Sie die Behauptung an einem Beispiel aus dem Alltag, ich schlage Fussball vor, und Sie werden merken wie gewohnt erkenntnisreich Scharang denkt: Schönheit, Eingebung und Zauber des Spiels werden von den verkrüppelten Beinen Garrinchas, von „kleines, dickes Müller“ und dem halben Hemd Messi statt von den Gesunden und Starken getragen.

Im alten Ägypten regulierte Joseph den Getreidepreis durch staatliche Eingriffe und glich Konjunkturschwankungen aus. Thomas Manns Josephsroman, durchaus als Unterstützung für den New Deal gedacht, führt die „mögliche Wirklichkeit“, und die „mögliche Wirklichkeit“ streichelt Scharang ungeheuer gern, eines gezähmten Marktes, eines Marktes, dem man die Reisszähne gezogen hat, vor. In Scharangs Ägypten ist der Ausgleich zum Kapitalismus allein Sache eines philanthropischen Unternehmers. Der Staat tritt kurz in Form um sich ballernder Geheimdienstler auf. Die Farm in der Wüste ist Sinnbild für eine fürchterliche Niederlage der Linken. Das Establishment braucht zur Absicherung nicht mal soziale Kosmetik.

Die erste Zigarette Freudensprungs in der Kneipe, den über Nachkriegsösterreich verbitterten antifaschistischen Vater, dem selbst Fachsimpeln über Technik mit Sarani keinerlei Lebensmut mehr einflösst, den Unfall hoch oben im Gebirge mit der Axt, die man aus dem Oberschenkel ja nicht rausziehen durfte, weil sonst der Freund Sarani verblutet wäre, all dies in direkter federnder Eleganz geschildert, kippt immer dann ins Geschmäcklerische , wenn Scharang den Leser vor dem rasend schnellen Lärm des Pops und dem Gelalle der Bestsellerlisten abschotten will.
Ein paar Gläschen mehr Inländerrum im Espresso Dockl hätten dem Buch nicht geschadet.

Michael Scharang, Komödie des Alterns
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
Gebunden, 253 Seiten, 19,80 EUR
ISBN- 978-3-518-42135-2

Februar 2010 Alfred Döblin im Saarland und in Lothringen

Die einsame Rückkehr

Buchvorstellung von Stefan Gleser

Die Reihe „Spuren“ des Merziger Gollenstein-Verlags sammelt längst vergessene Blicke bekannter Schriftsteller auf `s Saarland und seine Nachbarn. Diesmal hat sich Herausgeber Ralph Schock Alfred Döblin (1878 – 1957), Mediziner und Verfasser des „Berlin Alexanderplatz“ vorgenommen.

Döblin meldet sich bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges des höheren Gehaltes wegen freiwillig. Er wird in Saargemünd, das damals zum Deutschen Reich gehört, als Militärarzt stationiert. Döblin empfindet das lothringische Städtchen zuerst als vertratschtes Kaff mit „Oberstabsärzten und anderen halbabgestorbenen Cholerikern“. Stütze in dieser Zeit ist ihm sein Verleger Herwalth Walden, an den er zahlreiche Briefe schreibt. Sie sind ein Kuddelmuddel aus Alltag, Einschätzung der aktuellen Lage und Arbeitsbericht.

Wie viele Intellektuelle ist Döblin zuerst säbelrasselnd. Döblin habe, so Schock, vielleicht im Krieg eine „antibürgerliche Revolte“ vermutet. Und dann die Hoffnung, im Schützengraben schwände der Antisemitismus – Döblin war jüdischer Abkunft. Die Realität, die Krüppel von der Front und der Stellungskrieg ersetzen bald die Vaterlandsliebe: “Ich spucke auf ein Kohlenbergwerk, wenn man es mit 100.000 Leichen zu bezahlen hat”.

Trotz Umzüge, Döblin wird 1917 nach Hagenau versetzt, kleinen Wohnungen, der Familie, dem Dienst und der fehlenden Bibliothek ist Döblin ausgesprochen produktiv. Er beginnt die Arbeit am „Wallenstein“. Zwei in dieser Zeit entstandene Erzählungen, die an Blies und Saar spielen, sind abgedruckt: „Das Gespenst vom Ritthof“ und die Groteske „Das verwerfliche Schwein“.

Nach dem Krieg ist Döblin vom Patriotismus gründlich geheilt: „Die Feinde Deutschlands“ seien „mitten im Land: „Stabsärzte, die mit der Reitpeitsche durch die Krankensäle gingen, Pastoren, die ritten und am liebsten Dienst mit Waffen taten.“

Der Grossstädter Döblin war zeit seines Lebens mit dem flachen Land, mit der saarländisch-lothringischen Region verbunden. Am westlichen Abhang der Vogesen, im Dorf Housseras liegt er begraben, an der Seite seines Sohnes Wolfgang, der 1940 lieber den Freitod wählte als in die Hände der anrückenden Nazis zu fallen.

1952 kehrt Döblin noch einmal ins Saarland zurück. Seine „Saarbrücker Rede über das neue Europa“ beginnt mit einem Bibelzitat. Die Fischer Andreas und Simon Petrus lassen auf ein Wort Jesus´ ihre Vergangenheit, Familie, Beruf, Heimat hinter sich und werden „Menschenfischer“. Vergleichbar solle Europa die Kriege, die wegen einem „Herrscher und seiner Clique“ geführt wurden, und die ewigen Grenzstreitigkeiten, diesen blutigen Albtraum, abschütteln: „Das Gebiß, die Maske, die Kette heißt – die Vergangenheit.“ Und das ist der Punkt, weil die Nationalisten aller Länder immer historische Rechte, immer die Geschichte oder die allerschickste Torheit, die „ethnische Selbstbestimmung“ anrufen, um einen Krieg zu beginnen. Döblins Ansprache ist präzise, nüchtern und pathosabstinent; die üblichen Beschwörungsfloskeln ans alte Rom und Griechenland bleiben draussen. Und wie leicht hätte er sich bei den Mächtigen einschmeicheln können, wenn er zur Verteidigung des christlich-abendländischen Kulturkreises gegen die Sowjets, wie es damals Mode war, aufgerufen hätte!

Döblins letzte Lebensjahre sind die Geschichte einer Isolation. In den Vereinigten Staaten war er wie Franz Werfel zum katholischen Glauben übergetreten, was ihn innerhalb der Verjagten nicht unbedingt beliebter machte. Bertolt Brecht schrieb darüber das Gedicht „Peinlicher Vorfall“. Nach der Befreiung kehrte Döblin nach Deutschland zurück und arbeitete in Baden-Baden für die französische Verwaltung und als Herausgeber der Zeitschrift „Das goldene Tor“. Enger Mitarbeiter wird dabei Anton Betzner. Den kennt Döblin schon aus den Weimarer Republik, dessen Roman „Antäus“ hatte er damals gefördert. Und wie sich jetzt langsam und schmerzhaft, aber ohne dass Döblin es sich auch nur mit einem Wort anmerken lässt, dass Verhältnis zwischen den beiden umkehrt, lässt sich im Briefwechsel nachlesen. Jetzt ist es Betzner, der für Döblins Romane wirbt und Vorträge vermittelt. Es ist erschütternd, wie Döblin, halbblind und Parkinson lässt ihn schütteln, anlässlich seines 75. Geburtstags sich bei Betzner für eine Postkarte bedankt, die gar nicht ankam. Döblin war zu diesem Ausblick schon nach Frankreich umgesiedelt. Vorher hatte er die Restauration in Westdeutschland abgeschätzt: „ An den wichtigsten Stellen und an den weniger wichtigen sitzen die Nazis.“ Döblins letzter grosser Roman „Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende“ erschien zuerst in der DDR.

Die verstreuten Texte aus vierzig Jahren Arbeit werden durch eine einzigartige Gabe Döblins zusammengehalten: Höchste Artistik in einer scheinbar hingeschluderten, hastigen Umgangssprache zu verpacken statt mit Edelschickimickiprosa zu langweilen.

Alfred Döblin, Meine Adresse ist: Saargemünd
Spurensuche in einer Grenzregion.
Zusammengetragen und kommentiert von Ralph Schock.
Merzig: Gollenstein Verlag 2009.
Mit zahlreichen Fotos
320 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
21,90 EUR
ISBN 978-3-938823-55-2

Juni 2010 - Die Krise sucht den Sündenbock- Kay Sokolowskys neues Buch „Feindbild Moslem“

Von Stefan Gleser

Bei den Parlamentswahlen in den Niederlanden sahnte der rechte Populist Geert Wilders mit Ressentiments gegen islamische Einwanderer kräftig ab. Theo Sarrazin, Idol und Gott aller Stammtische, pöbelte wider die angebliche Dummheit arabischer Kinder. Ein aufgewecktes Mädchen aus dem Morgenland sollte sich des Sarrazins annehmen und beibringen, dass die Bundesbank mit arabischen Zahlen rechnet. So wird, wahrscheinlich gegen den Willen Sokolowskys, sein Buch noch lange aktuell bleiben. Am Anfang war die Wiedervereinigung, als zusammenschlug, was zusammengehört. Die Morde von Solingen und Mölln, die Pogrome in Rostock und Hoyerswerda führten zur Abschaffung des Menschenrechts auf Asyl. Kluge Köpfe der Rechten merkten in jener Zeit, dass man Rassismus in eine schicke, gesellschaftlich anerkannte Form giessen muss, um weiterhin erfolgreich zu sein. Jemanden als „Kameltreiber“ oder „Knoblauchfresser“ zu beschimpfen, das erhöht nicht gerade das Sozialprestige. Ethnopluralismus, Leitkultur, homogene Kultur klingen da schon bürgerlich-honoriger. Mustafa in seiner Neuköllner Wohnung kürzt die Romane Thomas Manns und schüttet Wasser ins Klosterbier. Das nenne ich konspirativen Kampf der Kulturen.

Sokolowsky unterscheidet zwischen Angst, die aus individuellen Leid herrührt, deshalb ihre Berechtigung hat und von dem das Opfer sich befreien möchte und dem „Angsthaber“, Der fürchtet eine Abstraktion, in diesem Fall den Islam. Dieser ist fremd und muss fremd bleiben, weil der Angsthaber seine Existenz aus dem Unterschied zwischen sich und dem Fremden bezieht. Der Fremde nimmt ihm etwas. Es ist aber nichts Konkretes wie Auto, Wohnung oder Arbeitsplatz, sondern der Fremde, so der Angsthaber, nimmt ihm die Identität, die Kultur. Und der Angsthaber denkt so beschränkt, dass er sich Identität und Kultur nur im Zusammenhang mit dem Ephiteton „bedroht“ denken kann. Deswegen kann er sich gegenüber dem Gleichgültigen als überlegenen Warner zu fühlen. Um diese Position zu erhalten, werden möglichst viele schlechte Eigenschaften dem Fremden zugeordnet und die Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt der Angst sortiert.

Ein Beispiel für dieses Verhalten ist die Webseite „Politically Incorrect“. Blogger, geschützt durch Anonymität, suhlen sich in ihrem Hass. „Es müsste Mohammedanern grundsätzlich verboten sein, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen.“Erst tobt sich der Mob virtuell aus, dann wird im Gerichtssaal die Ägypterin Marwa El-Sherbini niedergestochen.

Temperamentvoll und mit grosser Lust an der Polemik bekriegt sich Sokolowsky mit seinem Kollegen Henryk M. Broder. Dem wird fairerweise erst mal hoch und ausdrücklich angerechnet, dass er als erster auf den verkappten Antisemitismus der Riefenstahl Verehrerin Alice Schwarzer und mancher Linker hinwies. Broders Lust an der Provokation, sein unbestreitbarer Unterhaltungswert, seine berechtigte Kritik an Brandrednern und Fundamentalisten, wird allerdings schnell fade und routiniert, weil Broder den Rundumschlag bevorzugt Wenn Broder am Himmelszelt den Halbmond entdeckt, weiss man sofort, dass demnächst ein Aufsatz über islamistischen Horden erscheinen wird. Sokolowsky ist, was den Sinn für Spott und geschliffene Bemerkungen angeht, mit Broder durchaus geistesverwandt. Deshalb müsste Broder merken, dass Sokolowsky sich um ihn bemüht und es bitterernst meint, wenn er Broders künftiges Schicksal ahnt: Broder wird solange mit der strammrechten Online-Zeitung „Blaue Narzisse“ und „Politically incorrect“ schäkern, bis jemand aus dieser Ecke eiskalt erklärt, woher er, Broder, eigentlich stammt.

„Feindbild Moslem“ ist kein Buch gegen oder für eine Religion. Sokolowsky dürfte es eher mit Peter Hacks halten, wonach Glocke und Muezzin gleichermassen stören. Sokolowsky ist für Gleichberechtigung und ein gesittetes Miteinander, schlicht für zivile Umgangsformen. „Feindbild Moslem“ ist dagegen, dass drei Millionen Mitbürger wegen der vermuteten oder tatsächlich Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturkreis unter Generalverdacht gestellt und in Kollektivhaftung genommen werden. Solange dies geschieht, macht man es den Gotteskrieger und Theokraten leicht: Die Verurteilung von Ehrenmord und Zwangsheirat ist dann halt ausländerfeindlich. Glaubt man einer Philosophin, die lieber anonym bleiben möchte und Migranten bei Ämter begleitet, dann werden Menschen aufgrund ihrer Herkunft einfach Bürgerrechte vorenthalten: “Das Problem bei arabischen und türkischen Leuten ist, dass man schon im Namen sieht, ob sie in die Kategorie ‘Muslim’ fallen oder nicht. Sobald da ein muslimischer Name steht, ist der Umgangston eine Katastrophe.“

Sokolowskys Buch weist in die Zukunft. Ein charismatischer Politiker, keine Nazis in der ersten Reihe und es könnte bald eine erfolgreiche Partei geben, die unter dem Vorwand das Grundgesetz vor der Scharia zu schützen, Fremdenhass und Sozialraub vereinen wird.

Kay Sokolowsky: Feindbild Moslem. , Rotbuch, Berlin, 2009,256 Seiten, ISBN-13: 9783867890830, Preis: 16.90 €

Juni 2010 - Vom Hakenkreuz zur Bibel.
Damaris Kofmehl schildert in „Der Neonazi“ eine Bekehrung

Buchvorstellung von Stefan Gleser

9523388_9523388_bigSie wurde auf der südlichen, der glücklichen Seite des Bodensees geboren. Vertraut an ein Miteinander von Sprachen und Konfessionen, gewöhnt sich erst mal gütlich zu einigen und früh am Beispiel von Büchner oder Lenin gelernt, das selbst Flüchtlinge gross rauskommen können, dürfte Damaris Kofmehl selbst verblüfft gewesen sein, als sie aufschrieb, wie sich Herrenmenschen aufführen. Nico, der „Neonazi“ im gleichnamigen Roman prügelt im Spanienurlaub einen Kellner halbtot, weil dieser die Zitronenscheibe für´s Cola vergass. Und seine Grossmutter kriegt am häuslichen Frühstückstisch sofort eine gescheuert, als sie statt der Dienstbote den Kaffee einschenkt.

Nicos Lebensweise sichert dem Sozialpädagogen die Planstelle. Nico ist Säufer und Schläger. Und das ist ein grosser Riss in seinem Leben. Sein Grossvater, ein ehemaliger Schlächter im Osten, der die ererbte Textilfabrik im Vorarlberg unbehelligt weiterführte, wünscht, dass sein Enkel als Skinhead mit eintätowierten Hakenkreuz auf der Brust aufwächst, statt in der aufgepeppten Luxusversion als Burschenschaftler mit Schmissen im Gesicht.

Nicos individuelles Psychogramm schmiegt sich faltenlos in den Gemütszustand der Rechten. Beiden wurden wie bei einem kleinen Kind nie die Grenzen gezeigt. Wer in Kneipe und Fussgängerzone grossspurig pöbelt, muss sich auf etwas im Hintergrund verlassen können. Jemand gehört das riesige Trainingslager in bester Touristikidylle, jemand zahlt die Rechtsanwälte und mancher Schliesser im Gefängnis ist Sympathisant. „Es gibt viele Politiker, reiche Geschäftsmänner, sogar Polizisten und Richter, die unsere Sache unterstützen und definitiv nicht mit einer Glatze durch die Gegend spazieren“, erklärt ein Ausbilder im Camp. „Den wirklichen Drahtziehern und Gönnern unserer Bewegung würdet ihr niemals ansehen, dass sie zu uns gehören…. Und es gibt mehr von ihnen, als ihr denkt.“

Leben ist für Nico balancieren. Aufsteigen will er nicht. Das bedeutet „Verrepsung“, Funktionär, Bonze. Absteigen will er nicht. Dann käme er dort hin, wo er so gerne tritt: die Obdachlosen, die Drogensüchtigen, die Kranken. Seine Funktion bei Blood & Honour entspricht diesem Schema. Zwar Häuptling der österreichischen Gruppe, aber kein Organisator. Und dann noch das kalte Fieber, der blitzschnelle Wechsel wenn Nico vom Säufer am Tresen zum asketischen Sportler in der Einzelzelle mutiert.

Vielleicht ist Nico einfach nur doof. Nach der bewährten Gleichung Patriot ist Idiot. Macht wie bekloppt Liegestütze im Knast in trauter Begleitung des eignen Uringeruchs. Andere Jungs sitzen im Eiskaffee und gucken Mädchen hinterher.

Oder Nico hat sich genau umgesehen. Wie er die Alltagskultur abhört. Die Rechte besetzt Musik, Schwimmbad, Kampfsport und Bier für sich. Wenn dicke Ärme und Tätowierungen und Klänge, die nicht von Viva kommen, die Jugendliche locken und Abenteuer und Verbotenes und die Verheissung auf das ganz andere als das Gerangel um Lehrstellen und die Wartemarke bei der ARGE verkünden. Der Gramsci von rechts in Badehose im Ringen um die kulturelle Hegemonie. Und wie behutsam und milde er den Elan der knospenden Faschisten in Richtung Zukunft lenkt und ihnen einbläut, ja die Ausbildung zu machen: „Denn wahre Neonazis sollten etwas im Hirn haben, um später einen anständigen Beruf zu erlernen zu können und nicht als Junkie auf der Straße zu enden.“

Um so schlimmer, jetzt an der Lieblingstanke ein Bier sehen und kein Geld haben. Selbst in Nicos Rübe brummt dann die Erkenntnis, dass seine Umgebung ein paar Geldscheine eher schätzt als vaterländische Montur. Und das macht ihn wütend und er wäre dann auch beinah explodiert, wenn nicht ein Mann mittleren Alters einen ausgegeben hätte.

Und so kommen sich zwischen Schnaps und Benzin Herbert, so heisst der Spender und Nico näher. Herbert ist Bauunternehmer und wird Nico, den gelernten Gipser, einstellen. Nico erfährt etwas unbegreiflich Neues. Herbert und seine Bekannten reagieren auf Nicos martialisches Aussehen weder furchtsam noch aggressiv sondern gleichgültig. Und Nico erträgt zum ersten Mal in seinem Leben Kritik. Als Nico nämlich einen Rückfall in selige Skinheadzeiten hat und besoffen verpennt, staucht ihn Herbert zusammen. Er ist Chef, er ist Familienvater und von einem, der noch nicht mal seine Zeche zahlen kann, lässt er sich keinen Auftrag kaputtmachen. Und Nico hört zu und schlägt nicht zu.

Woher der plötzliche Sinneswandel? Wer läuterte Nico? Ach, Damaris Kofmehl hat Nico recht tief in ihre Weltanschauung getunkt, was der Kunst selten gut tut. Herbert ist Mitglied einer evangelischen Freikirche und konnte Nico nach vielerlei Mühen, innerem Ringen und Gebeten den rechten Weg erweisen. Jetzt ist es nach Arno Schmidt erst mal gleichgültig, ob jemand Karl Marx oder die Jungfrau Maria besingt, Hauptsache er singt gut.

Bei der Kofmehl kommen sich allerdings der Wunsch, Nicos Bekehrung im gleissendsten Licht darzustellen und die Pflicht, eine spannende Geschichte zu erzählen, zuweilen in die Quere. Hätte sie ihre Botschaft ein wenig geschmeidiger verpackt, sie wäre überzeugender gewesen. Atheisten unter den Antifaschisten können sich damit trösten, dass Nico durch seine Taufe die Gleichheit der Menschen vor Gott akzeptiert. Und nichts war dem „Neonazi“ verhasster als Egalität.

Im Nachwort legt die Verfasserin Wert darauf, dass sie eine „wahre Geschichte“ aufgeschrieben habe. Zugleich betont sie, dass Nicos Leben, die Blutspur, die er hinter sich herzieht, seine Selbstherrlichkeit, die entscheidet wer lebenswert und wer es nicht ist, kein Einzelfall sei. Nico stellt, sieht man von der individuellen Lösung, dem Übertritt, ab, den langsamen, unbemerkten Verlust jeder sittlicher Normen dar. Die Ängstlichkeit, die in Apathie und klammheimliche Sympathie übergleitet, mit der die Bürger Nicos Brutalitäten tatenlos zusehen, die stillschweigende und effiziente Unterstützung die Teile der Elite den Rechten aus gutem Grund gewähren, radieren die Selbstverständlichkeit in der Kofmehl aufgewachsen ist und die sie als Lehrerin ihren Schülern weitergab, dass die Nase eines anderen erstmal Tabu ist, aus. So sieht sie ihr Idyll, die einzige Gegend, die immer deutschsprachig und nie naziokkupiert war, bedrohlich eingekreist. Als zaghafte Hoffnung erweist sich ihr versteckter Appell an die demokratischen Traditionen ihrer Heimat. Ein Polizist stellt Nico, als dieser in Zürich einem Junkie die Nadel in den Hals rammt, zur Rede:
„Wo Sie herkommen, kann man vielleicht Leute grundlos niederschlagen, ohne dafür bestraft zu werden. Hier nicht.“

Damaris Kofmehl: Der Neonazi
SCM Hänssler, Holzgerlingen, 2010
304 Seiten
ISBN 978-3-7751-508-66
12,95 Euro

Juni 2010 Von einem Lager zum andern

Henk Verheyens „Bis ans Ende der Erinnerung“

Buchvorstellung von Stefan Gleser

Der Körper zeichnet Erlebtes wahrhafter auf, als es Kunst oder Literatur vermögen. Noch Jahre danach schreckt Henk Verheyen nachts auf, schreit unwillkürlich und zittert. Erinnerung an die Kälte, an den Hunger, an die Schläge, an das „wagnerianische Schauspiel: ein Schuss, ein Toter“ überfallen ihn. Der 18 jährige Henk Verheyen wurde 1943 in seiner Heimatstadt Antwerpen Mitglied des belgischen Widerstandes. Seine Gruppe flog auf. Er selbst wurde im Rahmen einer „Nacht-und Nebel-Aktion“ verhaftet. Familie und Freunde blieben über sein Verschwinden im Ungewissen. Für ihn begann eine Tortur durch Gestapokeller, Gefängnisse und Konzentrationslager.

„Bis ans Ende der Erinnerung“ bündelt die Erfahrung des in der Welt nicht mehr heimisch sein in unterschiedliche Prosa. Der früheste Versuch, das Unbegreifliche begreiflich zu machen, stammt aus dem Jahre 1949: „Sage oder Wirklichkeit“. Die Geschichte siedelt in grauer Vorzeit, Namen und Orte tragen Phantasienamen und die Sprache ist prunkvoll und weit ausladend. Henver, Angehöriger eines friedfertigen Bauern- und Fischervolkes, wird von grausamen Barbaren versklavt und nach vielerlei Qualen von einem überwirklichen Retter befreit. Verheyen transportiert seine Erlebnisse ins mythisch Erhobene. Es ist eine Balance. Schon über die Geschehnisse schreiben, aber sie noch so weit wie möglich verfremden.

Die Nazis bezeichneten den Hofgang der Gefangenen als „Promenade“. Im gleichnamigen Buch nähert sich Verheyen der Brutalität seiner Peiniger bis in die feinsten Verzweigungen seines Gedächtnisses. Statt Zahlen markieren deutschsprachige Beleidigungen, mit denen die Wärter die Gefangen beschimpften, die Seiten. Verheyen führt so die Vergangenheitsbewältigung des gehobenen Feuilletons ad absurdum, das sich ständig fragt, wie ausgerechnet dem Volk der Dichter und Denker so was passieren konnte. Auch die Kapitelüberschriften sind dem Deutschen entnommen. Primär- und Sekundärtugenden haben ihren Rang vertauscht. Verheyens Schinder schenken der preussischen Hab-Acht-Stellung mit dem kleinen Finger an der Hosennaht mehr Beachtung als dem Genickschuss nebenan.

Bei „Promenade“ finden sich noch subjektive Splitter. Der Text „Das Sanatorium“ fahndet mehr und mehr nach einer faktenreichen und detailgetreuen Erinnerung. Von einem Gefängnis oder Konzentrationslager sprachen die Nazis als „Sanatorium“. Verheyen lernt vieler solcher „Sanatorien“ kennen. Über Gefängnisse in Antwerpen und Essen in das KZ Esterwegen. Darauf über die Zuchthäuser in Groß-Strehlitz und Brig in das schlesische KZ Groß-Rosen bis nach Flossenbürg in Bayern. Dort hatte die SS hatte schon die weisse Fahne gehisst, die Häftlinge beglückwünschten sich, als die Leiden noch mal begannen und der Todesmarsch startete.
„Sanatorium“ ist in Schwebe gehalten. Die Erinnerungsfetzen und persönlich gefärbte Bilder zu Beginn des Buches werden bei der Schilderung des KZ Flossenbürg durch Akten, Formulare, Zahlenreihen und Namenslisten abgelöst. Dass der jüngste Beitrag des Buches auf die nüchterne Kraft der Dokumente vertraut, ist kein Zufall. Es ist eine Reaktion auf die „Revisionisten“, die die Verbrechen leugnen wollen. Verheyen betont, dass die geschilderten Grausamkeiten eine geglättete Oberfläche bilden. Viele Geschehnisse habe er verdrängen müsse, um das Leben zu ertragen.

Unter den Opfern des Faschismus, die ihre Erfahrungen niederschrieben, ist Verheyen eine Ausnahme. Verheyen ist zuerst Sprachkritiker: „Zum anderen hatte das Nazisystem schöne Namen für alles, was unmenschlich war: Wortlügen zur Irreführung des Menschen. Ein Wort wurde verwendet, um eine andere mehr oder minder ähnliche Wirklichkeit als die eigentlich bezeichnete auszudrücken.“
Verheyen formt eine Prosa, eine die Erfahrung und Beweis, Sprachphilosophie und Verfremdung umfasst. So demonstriert Verheyen vielfältig das Scheitern der Sprache und deren Grenze. Alle Versuche, ob antikisierender Duktus, Zahlen oder wüste Detailbesessenheit vesagen an den Schornsteinen aus denen Rauch kam. Dem Leser bleibt nur die Phrase aus dem Literaturgewerbe, dass Verheyen ein erschütterndes document humain erschaffen habe.
Der vorliegende Band vereint die Veröffentlichungen von 1949 und 1994 sowie Ausschnitte aus der »Promenade« jeweils mit den Original-Illustrationen von Leo Lewi und Henk Verheyen.

Henk Verheyen: Bis ans Ende der Erinnerung
Pahl-Rugenstein Verlag , Bonn,
2009, 205 S., 37 Abb., Gb.
ISBN 978-3-89144-421-4
16,90 Euro