Titel - Stefan Gleser schreibt Buchkritiken

Der Saarbrücker Schlüsselroman

Das Ohr ganz fest am Herz des Nauwieser Viertels in Saarbrücken

Erinnerungsleistung der anmutigen Art – Das Buch sehnt sich danach gezeichnet und verfilmt zu werden

Buchvorstellung von Stefan Gleser

Alle schreien nach Deckelschulden, sind dann aber mucksmäuschenstill: Denn hier kommt mit „Big Trouble im Nauwieserviertel“ das endgültige Grosswerk über zehenspitzblonde Schwedinnen, Petersilie, Linke, Bier, Maler, eine dem Espresso weichend müssende Thermoskanne, abgefüllte Aschenbecher, mehr Bier und chinesische Kabelträger. Hat die deutsche Linke mit all ihren Flausen, Flops und Fisimatenten wirklich ein solches Buch verdient? Dass man sich in einer solch verspielten und mitfühlenden Weise ihrer annimmt, wo doch vieles dafür spricht, sie zu verfluchen? Ja, trotz alledem haben Joachim Schmitt und Bernd Rausch gesagt und notiert, was sie in den letzten Jahrzehnten im Nauwieser Viertel in Saarbrücken gesehen und gehört haben.

Mein erster Eindruck: Zu der Zeit, als die Welt noch unberührt war von Premium, Event und Design, schien die Sonne gütiger. Mit welch ausgesuchter Höflichkeit, mit welch erlesener Noblesse werden die beiden „zerbrechlich wirkenden“ älteren Grazien vom Lande behütet, die sich in die grosse Stadt verirrt haben. „Es hat nur der gewöhnliche Stuck, der von der Decke rieselt, ihr Haar so weiß gefärbt“, beruhig der Dichter Marco H. im erwählten Tonfall die beiden Frauen. Man merkt, Eliteschnösel mit Markenklamotten wären damals als unbegreifliche Wesen „ausgelacht worden“. Big Trouble hebt Elemente der „utopischen Lebensfreude“ für uns auf.

Einst bedeckte der sanfte Honigschleim der Bohème das Nauwieser Viertel. Hier galt die rasante, ja inngeniöse (INN= Englisch= Gaststätte, danke Joyce) Nachdenklichkeit, die keinen Cent einbringt, als Basis für Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung: „Sie hatten Jobs gefunden, die ihnen viel Muße ließen, und waren mit jener munteren Geselligkeit beseelt, die andere mit einer Soße aus Frotzeleien, Sticheleien und Albernheiten übergoss.“ Es waren Gäste, die zu einem alten Schnaps oder einem neuen Wortspielen wie „Vorhaut“ statt „Vorhut“ und „Prothese“ statt „Antithese“ einfach nicht nein sagen konnten.

Romane, die gern an der Theke stehen und einen heben, lauschen mit Vorliebe den Sprachschattierungen, den durch dumpfe Wiederholung abgeschliffenen Erkenntnissen, dem erleuchteten Lallen, dem Slang und Sound des Gemurmels und sehen das Wirtshaus als Welt im kleinen an. Rausch und Schmitt sagen aber Tschüss zum klassischen Kneipenroman, spendieren Henscheid und Schulz noch ein Bier für die Anregungen und stürzen sich auf die überbordende Groteske und den tolldreisten Comic.

Das Buch sehnt sich danach gezeichnet und verfilmt zu werden: Wilde, überraschende Blickwinkel, möglichst viel Bewegung wie Fussball und Balgerei, zahlreiche Miniaturszenen, Ausflüge in die nahe Kirche und ins ferne Shanghai, die Würdigung des Malers Otto Lackemacher, das sind alles visuelle Elemente, um der Enge der Sprache zu entkommen. Es schmuggelt sich sogar ein Film ins Buch ein. Dem Regisseur Twen von Herbstlich und sein Kameramann Arturo Lui vom saarländischen Rundfunk bannen die Rauferei zwischen Bullen und Eingeborenen des Nauwieser Viertels und die Verehrungsorgie für Kamerad Tabakblatt auf Zelluloid ein.

Eine Lesung wird als Kneipenschlägerei wiedergeboren, und weil so brav geprügelt wurde, darf sie als Strassenschlacht erneut Inkarnation feiern. Eine weitere Steigerung verhindert die Oberbürgermeisterin, die als klassische Versöhnlerin wirkt und obendrein im Vorwort forsch betont: „Gerade lesen öffnet Türen…“. Also ich hab´s ausprobiert. Nach vier Stunden war ich von sozialdemokratischen Ratschlägen enttäuscht und wandte mich wieder der konventionellen Methode zu: Die Klinke niederdrücken.

Der Abschied vom herkömmlichen Kneipenroman hat allerdings nicht nur künstlerische Gründe. Es liegt versteckt in der Formulierung „örtliches Bier“. Regionales Bier, aus der nächsten Brauerei, konnte früher zu Hochform auflaufen und behaupten, es gebe kurze und berauschte, göttliche und klassenlose Momente am Tresen. Bier hat sich aber angepasst und fügt sich mit der Ware vom Discounter und der Fernsehplörre im wahrsten Sinne des Wortes in die Kastengesellschaft ein.

Die Sympathien der Verfasser gehören dem, der noch ein wenig renitent blieb, kein Adabei war und jetzt zur Strafe im Geldbeutel nachschaut, ob´s noch für einen Schoppen reicht, statt im Parlament von der Kultur der sozialökologischen Nachhaltigkeit zu blödeln.

Ganz ruhig ist es, man könnte einen Bierdeckel fallen hören, im Gasthaus Bingert. Denn ein Mitglied des alten Kollektivs wird zu Grabe getragen. Nur der Disjockey Juri, dessen Eltern zum Inventar der Schenke gehörten, und Wenke, Schwedin und Kellnerin, sind – und hier kommt „Hallo Überraschung“ ein schöner altfränkischer Ausdruck – im „Schankraum“. Juri schaut tief in den „Brunnen der Erinnerung“ und ins Bierglas. Vor leichten Anfällen in die Verklärungssucht schützt ihn Wenke, seine künftige Frau, durch Skepsis. „Du meinst“, sagte Wenke nachdenklich, „so was wie ‚Hartz IV’wäre damals nicht durchzusetzen gewesen?“ „Schon möglich“, antwortete Juri, „’Hartz IV’ klingt irgendwie bedrohlich. Es klingt wie Pershing II.“

Die Theke des Gasthauses Bingert, das überall in der Republik steht, ist der Seziertisch des deutschen Linksintellektuellen. Ob er mit der Mao-Bibel oder dem Manufacturum-Katalog rum rennt, ob er Sachwalter der Latzhose oder des Raucherschutzes in Kabul ist, er tut´s erfolglos aber mit dem gebotenen verbissenen Ernst. Und so ist „Big Trouble“ das mühelos heitere Gegenmittel, wenn unsere Helden wieder irgendwo zwischen Veganbrunch und Regierungsfähigkeit torkeln.

Joachim Schmitt und Bernd Rausch:
Big Trouble im Nauwieser Viertel
Streifzüge durch einen berühmten Stadtteil mit den Tollen und Vollen
128 Seiten, 6,90 Euro
Blattlaus Verlag, Saarbrücken, 2011
ISBN: 978-3-930-771-72-1

128 Seiten (A6) 6,90 Euro. Buch Neuerscheinung Oktober 2011 – Der Roman, der Autoren Schmitt & Rausch ist erhältlich im Chinesenviertel in Saarbrücken

Das Saarbrücker Buch der Bücher liegt bereit bei:

1. Buchladen
2 Bingert (Kneipe)
3 Fleur (Kneipe)
4 Valente Friseur
5 Utopie Kreativ


 

Von Bernd Rausch - Stefan Gleser schildert anhand eigener Erfahrungen und denen von guten Buchschreibern, welche Bücher eine besondere Bedeutung in unserer Gesellschaft haben sollten. Stefan Gleser durchdringt den Inhalt der Bücher, die er bespricht und fasst das Gedachte, das Erkannte, das Analysierte in lesenswerte, wissenswerte Texte. Diese erscheinen seit 2008 als Buchrezensionen auf den Seiten der Stadtzeitung Saarbrücken, takt.de und SOZ-Saarländische Online-Zeitung. Anstelle einer Laudatio ein Bild von Stefan Gleser bei der Arbeit.

Stefan Glesers Buchrezensionen:

Januar 2012 - Antifaschismus für jeden Tag

Dezember 2011Raus aus dem Mief und ab nach Indien!

November 2011 Unsere Herrenreiter

Oktober 2011 - Dem Kapitalismus die Reisszähne ziehen

Oktober 2011 - Das Leben als Online-Inszenierung

Juli 2011 - Fußball - Angriff von Rechtsausen

Juli 2011 - Neu - Saarland Krimi

Mai 2011 - Die Poesie des Biers

Mai 2011 - Die ungehörte Botschaft von Jan Karski

April 2011 - Lächeln für das vierte Reich

März 2011 - Letzte Tage in Coyacán, Trotzkis Jahre im mexikanischen Exil

März 2011 - Die Jamaika Clique

März 2011 - Ernst Busch verschläft seine Verhaftung ...

Januar 2011 - Die poetische Wut

Januar 2011 - Das Bürgertum verroht

Oktober 2010 - Mord, Markt und Plagiat

Oktober 2010 -„Ich sterbe ruhig und mutig“

Juli 2010 - Die Kunst der Sabotage

Juni 2010 - Von einem Lager zum andern

Juni 2010 "Stadt – Land – Rechts“ Nazis in der Provinz

Juni 2010 - Der Neonazi - eine Bekehrung

Juni 2010 - Feindbild Moslem

Mai 2010 - Wie gehe ich mit Größe durch den Schund der Zeit?

April 2010 - Komödie des Alterns

Februar 2010 - Alfred Döblin im Saarland und in Lothringen

 

 

November 2009 - Das Poesiealbum aus dem Lager

Februar 2009 "Russland" Herzschlag einer Weltmacht

Oktober 2008 -Den Betze mit der Seele suchend - Die Geschichte einer Besessenheit

Dezember 2008 Was ist schon ein Mord gegen einen Bildungsauftrag?

Dezember 2008 - Arthur Szyks Bilder gegen Nationalsozialismus und Terror


 

Ausgang

9.1.2012 - Aber woher sollten wir die Waffen nehmen?

Der schwedische Schriftsteller Steve Sem-Sandberg schildert in „Die Elenden von Lodz“ die Vernichtung des Getto

Klett-Cotta Verlag

Buchvorstellung von Stefan Gleser

Nach dem Überfall auf Polen, errichten die Deutschen ein Getto in der Textilstadt Lodz. Dabei muss Chaim Rumkowski, ein ehemaliger Fabrikant, mit ansehen wie sein Glaubensgenosse der promovierte Rechtsanwalt Klajnzettel, der gegen Enteignungen protestierte, aufgehängt und dann gesteinigt wird. Rumkowski folgert daraus: Erfolge aus der Vergangenheit schützen nicht und die einzige Überlebenschance für Juden besteht darin, sich unentbehrlich zu machen. Aus Gründen der Propaganda und um ihre Gefangenen Sicherheit und Selbstverwaltung vorzutäuschen, setzen die Deutschen einen „Ältestenrat“ ein. Dieser wird sofort erschossen. Danach misshandeln die Deutschen Rumkowski und ernennen ihn zum „Präses“ eines neuen Gremiums. Rumkowski will kriegswichtige Dinge produzieren, um die Verschleppung der Bewohner in die Todeslager zu verhindern. Die Geschichte des Gettos ist gut dokumentiert. Es liegt ein Archiv vor, dass die Eingepferchten selbst verfassten. Daraus und aus Ausgedachtem formt Sem-Sandberg „Die Elenden von Lodz“

Rumkowski ist schon merkwürdig. Er ist der grosse Verzögerer. In jeder Minute, in der die Bewohner nicht deportiert werden, sondern für das Militär wichtige Produkte herstellen, rücken die Alliierten näher. Zu Himmler sagt er, Lodz sei eine Arbeiterstadt und kein Getto. Den aussichtslosen Kampf nicht annehmen, sondern zaudern und alles verlangsamen. Auf die Ingenieure verweisen, die medizinische Geräte herstellen. Auf die Fertighäuser zeigen, die deutschen Zivilisten ein Obdach geben. Und wie wichtig ist in Russland die warme Kleidung der Schneider und Näherinnen von Lodz. Wäre Rumkowski kein alter, polnischer Jude gewesen, man hätte ihn als Fabius Cunctator des zwanzigsten Jahrhunderts gefeiert.

Rumkowski, ein Schwärmer und Narr, der seinen künftigen Mördern blind vertraute. Vielleicht liegt es daran, dass Rumkowski als Kind aus der Welt fiel. Die Klassenkameraden, die ihn sonst unbeachtet liessen, forderten ihn auf, den Fluss zu durchzuschwimmen. Einmal aufgenommen sein im Kreis der Mitschüler, einmal ihm Mittelpunkt sein, denkt sich da der Rumkowski. Dann aber wird er mit Steinen beworfen und sieht sich einer Galerie hasserfüllter Zähne gegenüber. Das wuchert in ihm. Jetzt sucht er was, woran sich festhalten kann, z. B. Statistiken über die Arbeitsleistung. „Nur der Präses glaubt, dass die Deutschen einen Unterschied bei guten, arbeitsamen Juden machen“, heisst es im Getto.
Rumkowski, der bis zu letzt, bis zum Abtransport die Versprechungen der Deutschen für wahr hielt, wird im August 1944 in Auschwitz ermordet.

Das Getto ist klar geordnet. Oben die Rendite von Wehrmacht und Neckermann, unten Hunger, Seuchen, Kälte und Zwangsarbeit. Die Menschen sterben einfach auf den Strassen. Das Getto fiebert in grossen Sehnsüchten Waffen und Nachrichten entgegen. Wie bei Jurek Beckers „Jakob der Lügner“ ist das Radio, dessen Besitz bei Todesstrafe verboten ist, die Hoffnung.
So sind die „Elenden von Lodz“ vielleicht weniger eine Geschichte über Moral als eine über die schlichte Tatsache, was passiert, wenn dem Schuhmacher, dem Arzt, der Hausfrau und dem Wirt Gewehre fehlen. Jankiel träumt sich Stalins Panzer herbei. Im Archiv entwirft Aleksander Gliksman an geheimen Orten und in geheimer Schrift Generalstabskarten. Erwischt er einen Fetzen einer Radiosendung und spricht die von „Frontbegradigung“, dann ist die Rettung ein paar Kilometer näher.

Das Getto in Warschau steht auf und über Nacht wird aus der „stolzen, unüberwindlichen Edelrasse“ ein „Haufen sterblicher Männer“. Warschau scheitert an der mangelnden Munition.

Die Deutschen deportieren zuerst die Unproduktiven, die Kranken, Alten und Kinder in die Vernichtungslager. Dann wird das gesamte Getto „ausgesiedelt“, der Umschreibung für das Todesurteil. Von den über 200 000 Bewohnern wird die Rote Arme nur einige wenige Hundert später befreien können.

Mit der Figur des Adam Rzepin wird Sem-Sandberg vom Faktensammler zum Geschichtenerzähler. Rzepin geht in den Untergrund, versteckt sich im geräumten Getto und kämpft für das Überleben seiner behinderten Schwester. „Ein Jude mit Pistole“, diese Formulierung wischt alles Leid, von dem der Leser bisher erfuhr, hinweg. Während Hans Bielow, der deutsche Verwaltungschef mit der Schnapsflasche durch die menschenleeren Strassen stolpert, erobert Rzepin eine deutsche Waffe.. Sem-Sandberg ist aber ein zu guter Schriftsteller, als dass es mit Rzepin ein glückliches Ende nehmen könnte.

Grösse und Stärke des Buches liegen darin, dass Sem-Sandberg von denen erzählt, seien sie real oder erfunden, die ermordet wurden. Denn der siegreich Überlebende verdrängt allein aus seiner Existenz und gegen seinen Willen die Opfer.

Steve Sem-Sandberg: Die Elenden von Lodz.
Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011, 651 Seiten,
26,95 Euro , ISBN 978-3-608-93897-5

2012 - Der Saarbrücker Schlüsselroman. Nur wer das Nauwieser Viertel kennt, kennt auch die Stadt und das Ländchen drumherum.