November 2009 -Das Poesiealbum aus dem Lager - Marianne Elikans Aufzeichnungen aus Trier und Theresienstadt

Buchvorstellung von Stefan Gleser

Am 13.4.1945 konnte Marianne Elikan endlich den Satz in ihr Tagebuch schreiben: „Die Deutschen dagegen waren kleiner heut zu Tage als unsereiner.“ Als andere Mädchen ihres Alters zur Schule und zum Tanzen gingen, zitterte sie hungernd und ungezieferschwer um ihr Leben im Konzentrationslager Theresienstadt.

Mehr als 50 Jahre zögerte die 1928 geborene und in Wawern an der Saar aufgewachsene Marianne Elikan ihre Textsammlung zu publizieren. Der Historiker Thomas Schnitzler, Koordinator der Trierer „Aktion Stolpersteine“, hat Elikans Tagebücher, Gedichte und Briefe zusammen mit einem ausführlichen Glossar und einer kommentierten Biographie unter dem Titel „Das Leben ist ein Kampf“ herausgegeben.

Die Nazis definierten Marianne Elikan als „Mischling“. Sie wuchs bei Pflegeeltern auf. Der erste gewaltsame Einbruch in ihrer Kindheit war die Zwangsumsiedlung ins Trierer „Judenhaus“. In tragischer Ungewissheit verbleibt das Verhalten ihres leiblichen Vaters: vielleicht wollte er sie durch eine Adoption vor der Verschleppung ins Lager retten.

1942 wurde Elikan allein nach Theresienstadt deportiert. Den Nazis diente Theresienstadt auch zur Verschleierung ihrer Verbrechen. Der Völkermord an den europäischen Juden war bekannt geworden; es bedurfte eines „Vorzeigelagers“ um die Öffentlichkeit zu belügen. In der Realität fielen Unterernährung und Krankheiten mehr als 35 000 Menschen zum Opfer. Theresienstadt lag auf dem Weg nach Auschwitz und andere Mordstätten.

Elikans Erinnerungen ragen über ein Dokument der Zeitgeschichte heraus. Sie bezeugen einen hellwachen Geist. Der sarkastische Witz zeigt, dass damals schwärmerische Backfischzeit eher was für Arier war: „Drum prüfet sich, wer sich ewig bindet / Ob sich doch nicht noch etwas besseres findet.“ Der im wahrsten Sinne des Wortes Galgenhumor etwa in den Parodien bekannter Lieder ist die literarische Form um gegen die Henker zu bestehen. Ihr Mithäftling Walter Dehmel ahnt die Persilscheine und Entnazifizierung voraus, wenn er die Nazis in seinem Gedicht „Lasst sie nicht untertauchen“ sagen lässt: „Uns hat das alles auch wie Euch verdrossen, / wir waren ja auch nur gezwungene Parteigenossen“

Nach der Befreiung kehrte Marianne Elikan ins Land der Täter zurück. Schnitzler vergleicht nun Elikans Lebenslauf mit denen, die „erhebliche Profite aus dem Zwangsarbeitersystem der NS-Konzentrations- und Vernichtungslager erwirtschaftet“ hatten. Für die eine „absichtlich verkomplizierten Formalitäten und demütigende ärztliche Begutachtungen“, für die anderen gab´s Bundesverdienstkreuze und Pensionen. Elikan wurde das Erbe ihrer ermordeten Pflegeeltern verweigert. Sie musste miterleben, wie nur parteiinterner Futterneid verhinderte, dass Hans Globke, Kommentator der Nürnberger Rassegesetzte, nicht 1949 Bürgermeisterkandidat der Trierer CDU wurde. Der Trierer Bischof Bernhard Stein engagierte sich für Theophil Hackethal, Lagerarzt des Konzentrationslagers Hinzert, der Morde an Häftlingen durch gefälschte Totenscheine vertuscht hatte.

Wer, um sich auf Jean Améry zu stützen, in Theresienstadt war, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Trotzdem besitzt Marianne Elikan die Kraft, uns eine Aufgabe für die Zukunft zu geben.

Thomas Schnitzler (Hg.):
„Das Leben ist ein Kampf“: Marianne Elikan – Verfolgte des Nazi-Regimes. Tagebuch, Briefe und Gedichte aus Trier und Theresienstadt
Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 2008
278 S., 60 Abb., kt., € 28,50 ISBN 978-3-86821-100-9

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Stefan Glesers Buchrezensionen - Sechs auf dieser Seite
Februar 2009 Buchvorstellung: "Russland" Herzschlag einer Weltmacht

Stefan Gleser

Innenansichten eines sich wandelnden Landes oder der Philosoph im Plattenbau

Der Russlandkenner Kai Ehlers hat seine Gespräche mit dem russischen Journalisten Jefim Berschin aufgezeichnet. Dem Buch „Russland - Herzschlag einer Weltmacht“ sind der Briefwechsel seit 1987 und Zeichnungen von Herman Prigann beigefügt.

Ehlers beschäftigt sich seit Mitte der 80er Jahre mit sowjetischer Politik und russischer Sprache. Sein Interesse wurzelt in der Einzigartigkeit Russlands. Es ist eine Welt im verkleinerten Maßstab: Buntes Gemenge von Völkern und Religionen („Flickenteppich“ hiess es dazu in den Schulbüchern), Klimazonen vom Eismeer bis zur Wüste, Grosstädte und Bauerndörfer, Atomforscher und Nomaden usw. Gleichzeitig garantieren Bodenschätze und Bildungsstand eine relative Unabhängigkeit vom Weltmarkt.

Ehlers Gegenüber ist der Journalist Jefim Berschin. Dieser arbeitete jahrelang bei der angesehenen Literaturnaja Gasjeta, bevor sie ein „Oligarch“ übernahm. Berschin erlebte die Stammeskriege in der Moldauischen Republik und in Tschetschenien. Die völkische Phrase der „ethnischen Selbstbestimmung“, von Deutschland für die Anerkennung Kroatiens kreiiert, anstelle der humanen Forderung nach der Selbstbestimmung des einzelnen, vergoss auch in Russland viel Blut. Goldene Jahre waren für Berschin die Zeit unter Gorbatschow. Er konnte gegen die Regierung schreiben und erhielt noch Geld dafür. Berschin ist mit Westeuropa vertraut. Er besuchte die Schweiz und Deutschland. Die Sowjetunion sicherte ihm die materielle Basis; es waren noch ein paar Rubel übrig für ein Gläschen unter Freunden. Die tiefste Demütigung: Als sein Sohn während der Perestroika in der Schule ein Care-Paket aus den USA erhielt. Der Sozialismus stand für materielle Basis und Abwesenheit von Bürgerkrieg. Der Zentralismus half den Opfern des Erdbebens 1988 in Armenien schnell. Trotzdem wollen selbst Anhänger der Kommunistischen Partei nicht zu den vergangenen Verhältnissen zurück.

Für einen mit Russland unvertrauten, zwei Überraschungen. Emigrierte Schriftsteller schienen im westlichen Ausland einflussreicher gewesen zu sein als in Russland.

Berschin erwähnt von den Dissidenten nur Josef Brodskij und kritisiert dessen Satz „Diebe sind mir lieber als Mörder.“ Diebe könnten schnell töten, meint dagegen Berschin, vor allem wenn ihre gestohlene Ware in Gefahr sei. Zum anderen: Berschin sieht in Russlands Geschichte kein Grossmachtstreben. Der Kampf gegen die Mongolenherrschaft sei eher als „Sammlung“ zu deuten. Staaten, die im zweiten Weltkrieg gegen die UdSSR gekämpft hätten, wie die Slowakei und Bulgarien seien während ihrer Zugehörigkeit zum Ostblock mit Getreide und Energie unter Weltmarktpreisen versorgt worden. Ebenso Kuba.

Skeptisch beurteilt Berschin seinen eignen Beruf. Er schreibt an Ehlers: „Dir gefällt zum Beispiele unsere Literatur, aber Du schaust mit Argwohn auf unser Militär. Bei mir ist es umgekehrt. Denn gerade Schriftsteller hatten in den ehemaligen Sowjetrepubliken den Nationalismus angestiftet und den Krieg entflammt und das Militär musste ihn beenden.“

Und ein paar Zeilen später: „Vielleicht ist es doch besser, ein arbeitsloser Alkoholiker als ein nüchterner und pragmatischer Mörder zu sein.“ Welch tiefe Einsicht, dass friedliche Tagediebe nützlicher sind als dynamische Leistungsträger. Auf Deutschland übertragen. Wie gut stünden wir da, hätten Milchmädchen statt Elitemanager die Banken geleitet.

Wehmut fliesst, wenn Berschin sich an Basel erinnert. Friedliches Sitzen am Ufer des Rheins und Kaffee trinken; unmerklich die Grenzen zu Deutschland und Frankreich. Der nicht ausgesprochene Gegensatz: Die Schweiz als Übereinkunft zwischen Sprachen, Konfessionen und Kantonen. Und in seiner Heimat ein Gemetzel zwischen Bürgern rumänischer und slawischer Abkunft.

Bedeutende Politiker Russlands aus Berschins Sicht im Schnelldurchlauf: Stalins Liquidierung der Kulaken habe nur den „Faulen“ genützt. Wer im Dorf einen Spiegel oder eine wertvolle Truhe besessen habe, sei schon verdächtig gewesen. Krimtataren und Deutschen seien auf Grund der erfolgten bzw. befürchteten Zusammenarbeit mit den Hitlertruppen umgesiedelt worden. (Berschin ist wenn er „die“ sagt und eine bestimmte Gruppe sagt, gefeit vor Kollektivverurteilung. „Die“ dient dem Redefluss) Jelzins Parolen von „Bereichert euch“ und „Holt euch so viel Souveränität wie ihr braucht“ hätten zu einer kriminellen Privatisierung und zur Auflösung des Staates geführt. In Moskau hätten sich einzelne Stadtbezirke für unabhängig erklärt. Und die Scham sehen zu müssen, wie Jelzin als besoffner Dirigent in Deutschland auftrat. Unter Putin sei Stabilität eingekehrt. Die Löhne seien wenigstens pünktlich ausbezahlt worden.

Als Gründe für den Verfall der SU werden die Überalterung des Politbüros, die „Falle“ Afghanistan und der Medienkrieg genannt. So habe die Führung der UdSSR wirklich geglaubt, der geplante Schutzschild SDI sei realisierbar.

Vitamine holt man sich im Garten, nicht im Supermarkt, erzählt Berschin. Die eingelegten Pilze und das konservierte Obst haben wenig mit „tradierter Esskultur“ zu tun, sie sind bitter notwendig. Datscha, Babuschka und Grossfamilie sind nicht romantisch verklärte gute alte Zeit sondern Hilfen zum Überleben. Viele Lohnabhängige kommen nur mit Selbstversorgung und dem Rückhalt der Verwandtschaft über die Runden.

Das Buch ist willkürlich und parteiisch. Es leitartikelt nie. Das ist seine Stärke. Berschin gelingt es, abstrakte Begriffe dank Beispielen in die Wirklichkeit zu holen. Die Weite, der Kosmos, die unbekannte Leere des Ostens verkörperten sich in Gagarins Flug ins All. Oder die Entstehung und Modernität Israels beruhten in der Spiritualität der orthodoxen Juden.

Weil permanent das Thema verfehlt und von einem Gedanken zum anderen gesprungen wird, erscheint Russland in einem vielfarbigem Kaleidoskop: Momentaufnahmen aus der Vergangen, dem Alltag, der Politik und Ausblicke in die Zukunft. Wenn der Dialog so undogmatisch, offen, vielgestaltig, von der Zigarette über den Zaren und Sibirien zum Teewasser in die Küche und zurückführt, dann erweist er sich als klassischer Weg zur Wahrheitsfindung.

Es ist Ehlers zu danken, die Erkenntnisse herausgelockt und gesammelt zu haben.

Dezember 08 Mit dem Zeichenstift gegen Hitler

Arthur Szyks Bilder gegen Nationalsozialismus und Terror

Von Stefan Gleser

Und da musste er, der weltberühmte Illustrator und angesehene Miniaturmaler, sich auf einen konzentrieren, den keine Kunstakademie je gemocht hatte. Die Karikaturen und Zeichnungen des polnischen Künstlers Arthur Szyk (1894 - 1951) gegen seinen Todfeind Adolf Hitler und die Achsenmächte sind jetzt erstmals in Deutschland zu sehen. Szyk entstammt einer bürgerlich-jüdischen Familie aus dem damals russischen Lodz. Sein Handwerk erlernte er in Paris und Krakau. Seine Gabe, Kunst als Waffe zu gebrauchen, erkannte zuerst die polnische Armee. Er wurde künstlerischer Leiter ihrer Propagandaabteilung.

Zwischen den Kriegen arbeitete Szyk an aufwendigen Buchprojekten. Nach dem deutschem Überfall auf Polen sandte ihn die Exilregierung in die USA. Szyk änderte seine Thematik radikal. Statt bibliophile Kostbarkeiten auszuschmücken, entstanden nun in rascher Folge tagesakuelle Zeichnungen gegen den Faschismus..

Szyks Werk ist detailbesessen, voller überbordender Zierart und an den alten Meistern geschult. Abstrakte Kunst sah er als erklärungsbedürftig und damit der Literatur allzu nahestehend an.

Szyk machte die neue Welt mit zwei Traditionslinien vertraut. Die Walhalla, die Deutschordensritter, Wagners Opern, die Vergötzung der Nation und der preussische Militarismus münden in die Vernichtungslager. Über Obrigkeitswahn und Staatsfrömmelei seiner westlichen Nachbarn hatte er schon früher gespottet. In den Illustrationen für das Satirebändchen "Revolution in Deutschland" (1919) des Dichters Julian Tuwim findet sich eine bezopfte und behelmte Walküre, die auf einer "Kaiserlich-Deutschen Erdkugel" steht. Die SPD könnte dieses Bild verwenden, um "deutsche Interessen in Afghanistan" auch künstlerisch zu unterstreichen.

Parallel der jüdische Kämpfer als Gegenentwurf. Die Makkabäer, Simson, der seine Gegner mit in den Tod zieht, die Aufständischen des Warschauer Ghettos und die jüdischen Soldaten in den Reihen der Alliierten.

Szyk war Szyks Reklamechef und schuf ein Netz vielfältigster Verbreitung: Auflagenmonster wie die Magazine "Time", "Esquire" und "CollierŽs" druckten ihn ab. Weitverbreitete Tageszeitungen wie die New York Post zeigten seine Bilder. Es gab Postkarten und Ausstellungen für die Soldaten. Er malte Plakate für Firmen, die für die Kriegswirtschaft produzierten und stiftete Arbeiten, um mit den Erlös europäische Juden zu retten.

Sein Überleben verdankt Szyk den Vereinigten Staaten. Trotzdem verklärte er sie nicht. Er empörte sich, dass die Afroamerikaner ihre Köpfe für die Freiheit der USA hinhielten und dennoch benachteiligt wurden. Zwei bewaffnete Ku-Klux-Klan-Männer bedrohen einen niedergeworfenen und gefesselten Schwarzen. Dieser trägt das Ehrenabzeichen der Verwundeten. Szyk schrieb darunter: "Vergib ihnen nicht, oh Herr, denn sie wissen was sie tun!". Zwei US-Soldaten unterhalten sich. Der Weiße fragt den Schwarzen: "Was würdest du mit Hitler machen?" Der schwarze GI antwortet: "Ich würde ihn als Neger in den USA leben lassen." Noch kurz vor seinem Tod drohte Szyk ein Opfer des fanatischen Antikommunisten McCarthy zu werden.

Szyks Zeichnungen richteten sich vornehmlich an US-Amerikaner und enthalten Anspielungen, beispielsweise auf Japan, die dem europäischen Betrachter fremd sind. Deshalb ist jedes Abbild mit einer Erläuterung versehen. Ausführliche Zeittafeln unterstützen das Verständnis.

Die schon im Deutschen Historischen Museum in Berlin gezeigte Ausstellung ist ab dem 18. Januar im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover zu sehen.

Arthur Szyk: Bilder gegen Nationalsozialismus und Terror / Drawing Against Nationalsocialism and Terror
Deutscher Kunstverlag, Berlin 2008
Text: Deutsch und Englisch.
342 Seiten mit 213 farbigen und 3 schwarzweißen Abbildungen,
24 x 30 cm, Hardcover
ISBN: 978-3-422-06841-4
34,90 €


Oktober 2008 Den Betze mit der Seele suchend - Die Geschichte einer Besessenheit

Björn Schmidts autobiographische Erzählung "Das Leben ist ein Fussballspiel"

Von Stefan Gleser

Mein erster Eindruck: Wenn's mit den Mädchen und dem Fussballspielen nicht so richtig klappt, bleibt einem nichts andres übrig, als Fan des 1.FC Kaiserslautern zu werden. Es ist selten, dass einer sich einer nicht so wichtig sondern auf die Schippe nimmt.

In "Das Leben ist ein Fussballspiel" arbeitet Björn Schmidt eine mehr als zwanzigjährige Beziehungskiste mit den "Roten Teufeln" auf. Schmidt feierte zwei Meisterschaften und zwei Pokalsiege und die Reinkarnation als Aufsteiger. Er litt unter zwei Abstiegen und das legendäre Spiel gegen den FC Barcelona und schaute fremd als Bayern München gegen Manchester United im Endspiel der Champions League noch kurz vor Schluss zwei in den Kasten kriegte.

Den aufgepumpten, runden Lederball erblickte der kleine Björn in einem Dörfchen im Hunsrück. Seine Mutter stammt unweit des Betzenbergs, aus einem Vorort von Kaiserslautern. Sein Vater war ein besonnener und seltner Stadionbesucher. Björn entdeckte seine Berufung schon früh in der Kindheit: Die eigne Mannschaft anfeuern kann er besser als für sie spielen.

Wie es sich für eine zart blühenden Liebesbeziehung gehört, nähert sich Schmidt scheu und keusch dem ersten Mal: Der erste Stadionbesuch gegen die Eintracht aus Frankfurt, das erstes Auswärtsspiel auf dem Bökelberg in Mönchengladbach, die erste Dauerkarte, die erste Meisterschaft, die ihm auf den Rückweg von Köln zum ersten Döner Kebab-Verzehr führte.

Manch schönen Punkt verdanken wir der Schmidtschen Gedankenkraft. Statt friedfertige Löffel zu verbiegen, konzentrierte sich der kleine Hunsrücker Bu in seinem Zimmer auf wirklich Wichtiges, nämlich auf Radioübertragungen der Betzespiele und intonierte Gesänge aus der Westkurve. Die Telepathie wirkte und der FCK brachte die Spiele sicher nach Hause

Den Patriotismus, ob locker oder geläutert, lässt er links liegen. Während des Endspiels zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik um die Europameisterschaft dachte er nur an seinen Betze. Es stieg die Furcht in ihm auf, bei einem Sieg der Böhmen könne der Marktwert von Kadlec und Kukac sich so erhöhen, dass der Betze deren Verträge nicht verlängern könne.

Lange bevor Politiker vom "lebenslangen Lernen" sprachen , bildeten sich Fans wie Björn Schmidt ständig durch den "Kicker", (das "stets ahnungslose Fachblatt" wie es Eckhard Henscheid nannte) den Sportinformationsdienst und die örtliche Tagespresse, die er im Gegensatz zu vielen Intellektuellen nicht verachtet, fort. Diplom-Arbeit, Heirat und Beruf säumten seinen Aufstieg zum "Fritz-Walter-Stadion", konnten ihn aber nie vom rechten Weg abbringen.

Klassischen Momente des Vergeigens, die einzigartige Luschenaura, die den Betze zuweilen umgibt, fesseln Schmidt an den Verein. Den im Kontor geborenen Siegertypen wie Bayern München oder Hoffenheim zollt er zwar Respekt wegen ihres kaufmännischen Geschicks; aber ihnen fehlt, was eine reife Persönlichkeit erst ausmacht: im letzten Augenblick versagen.

Eingeklemmt im Block reist der Fussballfreund durch die Zeiten. Er erinnert sich an die stets ruhmreiche Vergangenheit seines Vereins, pfeift im hier und heute den Pfeifenmann nieder und formt im Kalkulieren noch möglicher Punkte die Zukunft. Den Spitzkicker, das foule, arrogante Aas vom gegnerischen Klub ausbuhen, stiftet jetzt Identität. Was aber , wenn das brüllmächtig aufgebaute Feindbild nächste Woche beim Betze unterschreibt? Schmidt musste solches bei Basler, Sforza und betont gnadenlos bei Carsten Jancker mit ansehen. Selbst in den bittersten Schmährufen wurzelt also der Keim zu einer wunderbaren Freundschaft


Nach dem Studium erhält Schmidt plötzlich Geld fürs Reden, Schreiben und Zuhören, obwohl er früher nie fürs Reden, Schreiben, Zuhören bezahlt wurde. Ein- und dieselbe Tätigkeit wird völlig neu bewertet. Wie bei einem Profikicker: Erst führt Bolzen statt Hausaufgaben zur bangen elterlichen Frage "Was soll aus dem Jungen bloss werden?" später gibt`s für Fussball eine Menge Asche.
Schmidt beäugelt verwundert sein Berufsleben. Es läuft neben ihm her und schiebt ab und zu Kohle rüber. Ein Kollege erwirbt sich Ruhm und Ansehen durch den penetranten Optimismus seines "Das kriegen wir geregelt", auch und gerade dann, wenn das Anliegen völlig irreal ist. Die frohe Botschaft, lauthals ausposaunt, zählt mehr als die Tat. Einmal erwägt Schmidt, den ganzen Bettel hinzu schmeissen. Er macht beim Betreten des Arbeitsplatzes einfach kehrt. Und verschont den Leser mit dem erwarteten Schweissausbruch, Händezittern, Existenzängsten, Magenschmerzen und inneren Monologen. Schmidt geht schlicht zum Auto, und trottet zurück. Dieses vorsätzliche Weglassen ist einer stärksten Momente.

Im Buch führt die Form ständig einen Zweikampf gegen ihr Thema. Der Betze ist als provinzieller Klub von Kloppern berüchtigt und Schmidt umdribbelt federleicht - der Pirrung unter den Fussballstilisten - die Untiefen und Fallstricke der deutschen Sprache. So gedeiht Spannung zwischen Inhalt und Ausdruck. Umgekehrt ist zu folgern, dass ein Fan einer südlich-elegant auftrumpfenden Mannschaft sich hölzern, ungelenk in ellenlangen Schachtelsätzen verheddern müsste, um interessant zu schreiben.

Die sanfte Selbstironie des Fans, der keinen Fanatismus kennt, wird abrupt ernst, wenn der Rassenhochmut in den Stadien seine Fratze zeigt: "Rassismus lässt sich in Deutschland nicht kleinreden, und es wäre töricht, sich durch den beschönigend Blickwinkel seiner Vereinsbrille trügen zu lassen. Mir fiel es schwer, aus nächster Nähe in Gesichter sehen zu müssen, in dumme pfälzische Dampfnudelgesichter, deren Backenmuskel die Bewegung zu `Haut den Neger um` machten und dabei so selbstzufrieden wirkten, so glücklich darüber, nicht schwarz zu sein und so überlegen deswegen, dass man ihnen am liebsten rechts und links eine reingehauen hätte."


Ror Wolf gab vor Jahrzehnten den Anstoss zur intellektuellen Aufrüstung des Fussballs."Das Leben ist ein Fussball" hat den Pass schön gestoppt. Nicht nur Betzefans spenden dem komischen Einfall, dass mehr oder minder gelungene Fusstritte statt untreue Frauen oder künstlerische Schaffenskrisen Sensibilität aufzeichnen, Szenenapplaus.

Die dritte Liga stand vor der Tür! Wollme mer se rinlasse? fragten sich die Lautrer vor dem Spiel gegen Köln. Und Schmidt sass noch einmal vor dem Hörkasten und sammelte all seine Energie, denn: Komm in das totgesagte Stadion und schau der Betzefahnen unverhofftes Wehn, der reinen Kutten tiefes rot, da nimm den Becher Bier.....
Die Westkurve ist halt noch nervöser und zerbrechlicher als Meissner Porzellan.

Björn Schmidt
Das Leben ist ein Fußballspiel
Dem 1. FC Kaiserslautern verfallen
Werkstatt-Verlag, Göttingen, 2008
360 Seiten, Paperback
ISBN 978-3-89533-602-7
Euro 16,90

Björn Schmidt wird "Das Leben ist ein Fussballspiel" am 22. Oktober, um 18:30 Uhr im Presseraum des Fritz-Walter-Stadion im Beisein von Stefan Kuntz, Vorstandsvorsitzender, und Stefan Rosskopf, Fanbetreuer, vorstellen.

Dezember 2008 Was ist schon ein Mord gegen einen Bildungsauftrag?

Rudolphs erster Roman "Menschenfreunde" verpackt Szenen aus dem Wirtschaftsleben in einen Krimi.

Eine Buchvorstellung von Stefan Gleser

Einer hat den Absprung nicht geschafft. Von der Schmalzstullenatmosphäre und den Holzstühlen hin zum Ledersessel. Hatte zwar mal seine eigne Klitsche gehabt, der Herr Doktor der Soziologie, ist aber vollrohr den Bach runtergegangen. Seitdem planmässiges Saufen angesagt. Im Rausch wirbeln Verklärungssucht und Hartz IV, Chefallüren und Kontoauszug durcheinander. Und das will raus. Plärrt rum dieser Dr. Ballmann , macht die Gäste dumm an, jetzt diesen Lanhoff, der nur still in seiner Ecke sitzt. Der sei doch bei dieser I & B Firma, mit ihrem E-Learning und so Lanhoff zieht Leine.

Matthias Lanhoff, der zu Büchern allererster Sahne vor der spitzkickenden Gurkentruppe, die er auf Trab bringen muss, flieht, dürfte in sozialpädagogischen Kreisen als "Biographie mit Brüchen" firmieren. Er schmiss die Schule, träumte davon Profifussballer zu werden und erwachte als Ersatzspieler in der Regionalliga. Dann Sportinvalide, dann Trainerschein, dann versickerte das Leben zwischen Billigdiscounter und Appartement bis ihn sein ehemaliger Schulkamerad Prof. Dr. Kurt Zeilert, Inhaber der Firma I & B, da rausholte. Zeilert hält sich eine Fussballmannschaft, einen "ambitionierten Verbandsligisten" wie andere einen Hund und Lanhoff wurde Coach.

Zeilerts unaufhaltsamer Aufstieg stoppt seine Sekretärin. Sie liegt als erwürgte Leiche, wenn auch nicht im Keller, so doch in seinem Büro. Zeilert sucht Rückhalt bei Lanhoff. Zeilert hofft auf eine weitere Tat vergleichbarer Natur, damit der Verdacht nicht weiter auf ihn falle. Lanhoff und die ermittelnde Kommissarin machen sich auf Mördersuche. Datenbanken werden vernichtet, ein Mitarbeiter der Firma I & B bezieht Dresche, am Ende verschwindet sogar Zeilert. Der Mord entpuppt sich als Beziehungstat. Das ist der Lockstoff, den Rudolph ausstreut, damit der Leser mitkomme zu: Wirtschaftskriminalität, Abzocken von öffentlichen Aufträgen, dubiosen, um das Gemeinwohl ringenden Vereinen wie dieses "Forschungsinstitut digitales Lernen" (FIDL), das ganz offensichtlich mit Geld nach Zeilerts Firma wirft. Womit wir wieder am Anfang sind. Dr. Ballmann ist eines der Opfer dieses Gestrüpps aus Korruption, Businessslang, Heuchelei für Pisa-Geschädigte, EU-Fördertöpfen und Computerdeutsch. Zeitel erfüllt die äusserst vage mit "Beratung" umschriebenen Aufträge der "Fidl" mit Hilfe von Praktikanten, Aushilfskräften, 400 Euro-Jobber und Studenten, also praktisch umsonst. Dank dem gesparten Geld kann er dem Arbeitsamt die billigsten Angebote machen und so Konkurrenten, auf dem Bildungsmarkt, wie etwa Ballmann, in den Ruin treiben. Es muss eine ungeheuer lukrative Erzgaunerei sein, zudem noch sozial verbrämt, wenn arbeitslose Lehrer arbeitslosen Jugendlichen beibringen, sich auf nicht vorhandene Arbeitsplätze zu bewerben

Wuchtig und weinerlich, "aufsässig" und "unterwürfig" zugleich treten Mirko und Kevin auf. Rudolph zeichnet in ihnen, und dafür ist er nicht genug zu loben, zwei Jugendliche, die ihre Zukunft bereits hinter sich haben. Nicht nur ihr Charakter ist vielfältig, auch ihre Rolle in der Gesellschaft ist äusserst doppeldeutig. Als Hauptschüler, auserkoren bei Zeilerts Kursen mitzumachen, stehen sie in der Nahrungskette der sozialen Marktwirtschaft ziemlich weit unten; sie sind so relevant wie Zigarrenbauchbinden und gleichzeitig für künftige Auseinandersetzungen ungeheuer bedeutend. Als lumpenproletarisch, vergegenwärtig lonsdaleproletarische SA sind sie bereit für ein paar Flaschen Bier jedem Freiheitsliebenden den Stiefel ins Gesicht zu treten.

Wenn die Verhältnisse nicht so sind, bricht der Beschönigungszwang aus. Rudolph liefert eine hübsche Auswahl des gängigen Rotwelsch. Auf der Reservebank versauern, heißt jetzt "Ergänzungsspieler"; profunde Analphabeten geistern als "bildungsferne Schichten" rum; wüste Schimpfwörter werden zur "Motivationsstrategie" geadelt. Sich ungemein locker und entspannt dünkende Pädagogen biedern sich bei ihrer jungen Klientel mit einem "Bildungsbock", so ein Seminartitel, an.

Rudolph tupft im Vorübergehen mit einigen Ortsnamen den saarländischen Hintergrund des Romans an. Keine Sorge: Kein Lyoner ringelt sich um den Hals der Assistentin der Geschäftsleitung und erdrosselt sie, auf dass wohlig-anheimelndes Lokalkolorit entstehe. Eher eine verwischte zornige Erinnerung als Krebstod und Staublunge des Bergmannes an der Saar die Dividenden hochtrieben.

Ein wirklich reelles Verbrechen beginnt mit der Unterschrift einer gepflegten Hand, das bringen uns die "Menschenfreunde" oft ruppig, aber auch spöttisch und zuweilen sogar anrührend bei.

Dieter Paul Rudolph: Menschenfreunde.
Shayol Verlag, Berlin 2008.
212 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783926126818