Ausgang

Mai 2011 Jürgen Roths „Die Poesie des Biers“ erscheint in erweiterter Auflage

Buchvorstellung von Stefan Gleser


Ach, wer da mittrinken könnte!

Das schäumende Gelächter des ersten Biers des Tages. Einigermassen elegant in mich reingeschüttet. Darauf vor lauter Begeisterung Tabak verbrannt und in „Die Poesie des Biers“ geblättert. Sein Verfasser Jürgen Roth ist ein Aufklärer, ein Freund der „Neuen Frankfurter Schule“ und ein Verehrer Gerhard Polts. In diesem Buch, und das ist die Überraschung, zeigt er sich versonnen. Er möchte Sätze schreiben, die rein und unbefleckt vom Schwall der Öffentlichkeit sind. Bei grossen Themen ist dies Illusion. Deshalb probiert er es im Kleinen, wenn er ein Glas Bier trinkt. Die Etiketten im Supermarkt, die Plakate auf den Strassen und die Reklame im Fernsehen springen ihn mit den verbrauchten Worten der PR-Fuzzis an. Und so steht er in der nächsten Eckkneipe, sucht den Aschenbecher und neue Kontinente des Ausdrucks.

Nur mit einem Plastikwegwerffeuerzeug als Öffner und der Anweisung seines Verlages, wonach ihm als Bierprüfer alles kostenlos sofort zu verabreichen sei, ausgestattet, reiste Roth von Braustätte zu Braustätte. In ruhmreichen Bierländern wie Belgien und Tschechien nippte er verhalten. Dafür schürfte, ääh schlürfte er überraschend Köstliches aus nordamerikanischen Sudkesseln. Ungern trank er in Ungarn. Das lag am „Sör“. Viel im Argen liegt in Norwegen. Nüchtern betrachtet waren die Wikinger keine Eroberer sondern Flüchtlinge vor heimischer Plörre. Wer es nicht ausser Landes schaffte, sitzt heute das halbe Jahr im dunklen, tastet nach sauren Heringen und öligem „Öl“ und grämt sich eins. In sanft und lieblich hingegossenen fränkischen Dörfchen zanken sich sieben oder acht Brauereien um einen Zecher.

Auf der Europakarte ziemlich weit rechts oben in den baltischen Sümpfen prosten Biber und Elch sich mit Getränken zu, die schwierige Namen tragen wie „Uzavas gaisais alus“ , „Tumsais alus“ oder „Svyturys Baltas Kvietinis Alus“.

Biber hält die „Die Poesie des Biers“ in der rechten Vorderpfote und liest vor: „Gütig leichtes, ausreichend malziges Pilsener, mit dem sich auch dem Dauerregen eine Art Stimmung abtrotzen lässt.“

Über´s Bier können sie schreiben, die Deutschen.

Elch: Wem sagen Sie das.

Elch zieht den nächsten Kasten aus dem Moor.

Biber aufgeregt: Oh weh! Der Flaschenöffner ist versumpft!

Keine Sorge, schöne Leserin. Im zweiten Akt erscheint der Oberförster mit einem „ideal gehopften, makellos malzig, hochintelligent beschäumten“ Fässchen Held Bräu Bauernbier Dunkel, das der WWF stiftete, und alles wird gut.

Aus Pirmasens berichtet Dieter Steinmann. Er schaute zu, wie jede Woche ein älterer Herr die anrückende Müllabfuhr bewirtete. Auf einem Tablett reichte er ihnen Schnaps und Bier. Symbolisch tranken die Müllwerker einen kleinen Schluck, um die Gastfreundschaft zu würdigen und der alte Mann servierte aus Hochachtung vor der Arbeit. Dann folgte ein kurzer Plausch. Der Fahrer des Müllwagens winkte aus übermütiger Verantwortung mit der Sprudelflasche. Den beobachteten Jugendlichen schärfte der Herr ein, von Alkohol und Tabak zu lassen und lieber Mädchen zu begucken.

In Süddeutschland trafen Steinmann und Roth auf Hausbrauereien, die sich allzu aufdringlich an die Öko-Welle ranschmissen. An der Mosel litten sie unter Sauerbraten aus der Mikrowelle und an der Saar übte sich eine Brauerei an einem Krawalldialekt mit Gute-Laune-Zwang. Überraschend wurde der Unterschied zwischen den Trinkgefässen im Saarland und der Pfalz nicht herausgearbeitet. Während an der Saar, wohl welscher Einfluss, aus Fingerhüten getrunken wird, trauert die Pfalz in wehmütiger Nostalgie um den „echten“ Schoppen.

Überall Roth hörte den „labernden Leberwesen“ an der Theke zu. Entgegen allgemeiner Ansicht sind Gasthausgespräche nicht konfus, sondern folgen einen ausgetüftelten Zeitplan: Was habe ich gestern getrunken, was trinke ich jetzt, was werde ich morgen trinken.

Die Poesie ist ein buntscheckiges Durcheinander von Geschichten, Reiseerzählungen, Sprachkritik, Glossen und Listen. Sie respektiert die Freiheit des Lesers zu lesen, was er gerade will. Damit ist sie der Gegenentwurf zur Krimiwelle, die herrisch Konzentration fordert, damit man merkt, dass auf Seite 120 das Messerbänkchen ein fadenscheiniges Alibi hat.

Ist Roth von der besten Laune, erteilt er seinem Lieblingswirt Lokalverbot. Wildfremde Masskrüge sprechen Roth auf offner Strasse an und bitten, verköstigt zu werden. In Hildesheim weihte der Bischof eine Bierschwemme, die Roths Namen trägt. Geht Roth durch die Hallertau und Saaz, verneigen sich Hopfenstangen. Ernst Jandl widmete Roth ein Biergedicht: „Du blau.“ – „Ich weiss“.

Es bleibt nur zu wiederholen, was Lichtenberg anlässlich der Erstausgabe schrieb: Wer zu Hause noch ein paar Pfandflaschen rumfliegen hat, der mache sie zu Geld und kaufe sich dieses Buch.

 

Jürgen Roth
Die Poesie des Biers
Komplett überarbeitet und stark erweitert

Münster, 2010, Oktober-Verlag,
ISBN: 978-3-938568-91-0

Broschur, 804 Seiten; 24,90 Euro

Stefan Glesers Buchrezensionen - Fünf auf dieser Seite
Mai 2011 Die ungehörte Botschaft

Der polnische Widerstandskämpfer Jan Karski informierte die Westalliierten vergeblich über den Völkermord an den Juden

Buchvorstellung von Stefan Gleser

Ein Kurier, ein Mann der Résistance muss mit der „Landschaft verschmelzen“, so unauffällig wie möglich sein. Dort wo er wohnt, ist nichts von seiner Arbeit zu spüren. Es werden keine belastenden Gespräche geführt, keine gefährlichen Papiere aufbewahrt, nichts deutet auf den Untergrund hin. Dank solcher Vorsicht überlebte Jan Karski (1914 – 2000) die deutsche Besatzung des Landes und informierte die freie Welt über den Genozid. Karski, eigentlich Jan Kozielewski, Karski war einer seiner Kampfnamen im Widerstand, wurde als Sohn eines selbständigen Sattlers in Lodz geboren. Die Erziehung muss eine für Aussenstehende ungewöhnliche Mischung gewesen sein: katholisch, polnisch, konservativ, aber dabei weltoffen. Frühes Lernen fremder Sprachen trainierte das Gedächtnis. Sein Erinnerungsvermögen wird er später als „photographisch“ bezeichnen und sich als „«Grammophonschallplatte, die man bespielt, anhört, weitergibt“ definieren.

Bei Ausbruch des zweiten Weltkrieges gerät Karski, der inzwischen Jura studiert hatte und im Aussenministerium arbeitete, in sowjetische Gefangenschaft. Die russischen Soldaten behandeln Karski nach dem klassischen, bald vergessenen Muster von Sieger und Besiegten. Sie waren von jener Milde, bei der man nicht recht weis, ist es noch Nachlässigkeit oder schon Menschlichkeit. Bei Fluchtversuch drohten sie allenfalls mit „Sibirien“. Karski will nach Westpolen, in seine Heimat zurück, zieht die Uniform eines einfachen Soldaten an und wird an die Deutschen überstellt. Und ab jenem Zeitpunkt spürt Karski, dass sich irgend etwas geändert hat. Die Behandlung wird rau und ruppig, Willkür und Gewalt nehmen zu. Karski springt aus einem fahrenden Zug und schliesst sich dem Widerstand an.

Dass dies kein Krieg wie die vorangegangen ist, dass es nicht um mehr die Unterwerfung eines Volkes, sondern um dessen bewusste Ermordung geht, wird bekannt in Polen und Karski wird beauftragt, es der Welt zu sagen. Der jüdische Untergrund schleust Karski ins Warschauer Ghetto und in eine Todesfabrik bei Belzec ein. Karski wird Zeuge, wie die Hitlerjugend selbstgefällig und lachend Menschenjagd betreibt und sieht im Lager wie Tausende in dem mit ätzendem Kalk bestreuten Waggons lebendig verbrennen.

Durch halb Europa schmuggelt sich Karski, um Beweise für die Greuel nach London zu bringen. Die offiziellen Stellen beschwichtigen, beruhigen und wiegeln ab. Und in diesen ermüdenden Gesprächen, die sich in Amerika wiederholen werden, die zwischen Desinteresse und Unglauben schwanken, pocht in Karski Kopf unentwegt die Bitte aus dem Ghetto: „Vergessen Sie nicht, was Sie gesehen haben, vergessen Sie nicht, was Sie gesehen haben…..“ Man hält Karski nicht für einen Lügner, aber man will und kann es nicht für die Wahrheit halten, was Karski berichtete.

Es muss etwas Erschütterbares und gleichzeitig ungemein Festes in Karski geruht haben: An einem Tag gefoltert in der eignen Blutlache erwachen und an anderen Tagen in den Salons der Macht mit dem britischen Aussenminister oder dem us-amerikanischen Präsidenten sprechen, ohne an der Welt irre zu werden.

Grosse Teile seines Buches widmet Karski dem Aufbau und der Arbeit des polnischen Untergrundes. Die Frauen, darauf weist Karski besonders hin, trugen die eine Hälfte des Widerstandes. Sie betrachteten ihre Arbeit nüchtern und sachlich und waren deshalb oft erfolgreicher als ihre männlichen Landsleute, bei denen Abenteuerromantik und Heldentum einfloss. Karski beschreibt Pilsudskis illegale Druckmaschine als nationales Denkmal; die Teilungen und die Polizei des Zaren hatten freiheitsliebende Polen in konspirativer Tätigkeit geschult; sie gingen geübt in den Kampf gegen die Nazis. Der Lehrer, der im Geheimen seine Schüler prüft; der Zeitungsjunge, der zwischen den Blätter der Nazis, die Nachrichten des Widerstandes verteilt und der Bauer, der mitten in der Nacht den flüchtigen Soldaten aufnimmt, flossen zum grossen Strom zusammen, der die Nazis aus dem Land spülte Die Zyanidkapsel war die treue Begleiterin des Widerstandes. Die deutsche Besatzung war korrupt und liebte es, ihre Brutalität in Kultur zu hüllen. Es ist Karskis Stolz, dass Polen keinen Quisling kannte.

Warum sollen ausgerechnet bei der Darstellung des grössten Verbrechens in der Geschichte ästhetische Gründe eine Rolle spielen? Trotzdem schreibt Karski präzise, lebenssatte Dialoge und streut bewusst ruhige, fast idyllische Momente, wie etwa die Skifahrt in der Tatra, ein, so als wolle er noch einen letzten Hinweis geben, dass die Menschen doch ganz andere Möglichkeiten besessen hätten.

Der gläubige Katholik Karski kehrte nicht ins befreite Polen zurück. Er lehrte Geschichte an der Georgetown-Universität in Washington. Ein neues Land, ein neue Sprache, ein neuer Beruf waren für die, die den Nazis entkommen waren, Betäubung um nicht ständig an Erlittenes zu denken. Während der Anti-Hitler-Koalition war Karski wegen seines Antikommunismus nicht recht willkommen und im kalten Krieg war Deutschland, das er verständlicherweise nicht so schätzte, der geachtete Frontstaat der Nato. Erst der französische Regisseur Claude Lanzmann bewog Karski für den Film „Shoah“ die Zeit des Schweigens zu überreden, das Entsetzliche noch einmal mitzuteilen. Der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel sieht in Karskis Leben “ein Meisterstück an Mut, Integrität und Humanismus”.
Jan Karski: Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund. Kunstmann, München, 2011. 528 Seiten. ISBN 978-3-88897-705-3. 28,00 EUR

April 2011 - Lächeln für das vierte Reich

Frauen sind bei den Neonazis stark im Kommen, wie Andrea Röpke und Andreas Speit in ihrem Buch „Mädelsache“ aufzeigen

Andrea Röpke/Andreas Speit: "Mädelsache! Frauen in der Neonazi-Szene."

Von Stefan Gleser

Der Hass auf Demokratie und universelle Menschenrechte trägt auch weibliche Züge. Während in Frankreich Marine Le Pen den „Front National“ anführt und in den Umfragen für die kommenden Präsidentschaftswahlen vor dem Amtsinhaber liegt , machen sich ihre Kameradinnen rechts des Rheins still, leise und effizient auf den Weg, die Gesellschaft zu unterwandern und Macht an sich zu reissen. Die beiden Autoren haben „Mädelsache“, das lieber die unaufgeregte Reportage statt ein vorschnelles Urteil pflegt, so aufgebaut, dass porträtierte Personen gleichzeitig über Organisationen berichten und Beschreibungen der Verbände einzelne Charaktere zeichnen.

Als Kadertruppe und verschworene Gemeinschaft mit klandestinen Zügen, die wenig Wert auf Aussendarstellung legt, präsentiert sich die Gemeinschaft deutscher Frauen (GDF). Ihr Ursprung wurzelt in den Skingirls der neunziger Jahre. In die Öffentlichkeit gehen und dort agitieren ist dagegen die Aufgabe des „Ring(s) nationaler Frauen“ (RNF). Er ist Sprachrohr und Sammelbecken weiblicher NPD-Mitglieder. Die rechtsextreme Partei, schon längst keine Altherrenriege mehr in rauchigen Hinterzimmern „hat das politische Potential der sich engagieren wollenden Frauen erkannt“, schreiben Röpke und Speit. Noch sind Frauen in Führung und Listenplätzen unterrepräsentiert, marschieren aber unaufhaltsam in höhere Positionen vor. So sitzt Gitta Schüssler im sächsischen Landtag und in Rheinland-Pfalz steht eine Frau an der Spitze des Landesverbandes.

Frauen bei Neonazis sind nichts Neues. Auf eine lange und reichhaltige Erfahrung im rechten Milieu kann beispielsweise Ursula Haverbeck, ehemalige Leiterin des inzwischen verbotenen Collegium Humanum, dass ökologisch verbrämt Blut, Boden und Arterhaltung propagierte, und die Mainzerin Ursula Müller von der „„Hilfsgemeinschaft für nationale Gefangene“ (HNG) zurückblicken. Wie Frauen sich in fliessenden, nicht klar strukturierten Organisationen verhalten, zeigen die Beispiele von der „Mädelgruppe“ der „Kameradschaft Tor Berlin“ und „Frontbann 24“.

Inzwischen hat auch die strammste Nationalsozialistin gelernt, dass ständiges „Heil Hitler“-Gegröhl nicht viel weiter führt. Deshalb probiert sie es auf die „sanfte Tour“ und nimmt sich „weicher Themen“ an. Und hier führen Röpke und Speit eine vielfältige Palette von Beispielen vor, wie geschickt, energisch und auf den ersten Blick unauffällig rechte Frauen agieren. Sie sind in Elternbeiräten aktiv und drängeln sich in Nachbarschaftsvereinen und Bürgerinitiativen hinein. Ihre Stände tauchen auf Wochenmärkten und Mittelalterveranstaltungen auf oder sie reklamieren auch mal eine Turnhalle wie in Berlin-Weissensee für sich. In bevölkerungsarmen Regionen, aus denen die Leute abwandern, starten sie „Siedlungsprojekte“. Auch dabei erst mal vorsichtig Gift einsickern. Man solle mit einem Laden oder einen Handwerksbetrieb anfangen, statt die Dörfler heuschreckenartig zu überfallen, rät eine Faschistin im Internet. Auf kommunaler Ebene erreichen sie oft bessere Ergebnisse als Männer. Die nette Rassistin von nebenan, die auf Biokost im Kindergarten besteht, wirkt ja auch irgendwie adretter als der besoffene Skinhead, wes wegen sie auch gefährlicher sein dürfte. Gegenwärtig sind Frauen die kühnen Eroberer, wenn es um „kulturelle Hegemonie“ und politisches Vorfeld geht. Sie instrumentalisieren Familie und Kinder zu nationalistischen Zwecken.
Besonders perfide dabei, dass rechte Frauen bewusst Bereiche besetzen, in denen man von der

angeborenen Gleichheit der Menschen ausgeht, in denen Übereinkunft herrscht, dass Leistung statt Ariernachweis zählen sollte, wie Kindergarten, Schule oder Sport. Hier geben die Verfasser Hilfe, wie sich die Demokratie gegen rechte Infiltration schützen kann.
Was trägt nun die Kämpferin fürs Vaterland wenn es gegen Linke und Ausländer geht? Da die Rechte sich immer mehr zu einer Gesinnungsgemeinschaft wandelt, die mit ausdifferenziertem Erscheinungsbild in die Gesellschaft tritt, ist auch die braune Schwester abwechselungsreich gestylt. Weiter Rock, Skingirls mit Glatzen, schwarz gewandet als autonome Nationalistin oder schlicht unauffällig. Viele von ihnen setzen mit schwarz-weiss-roten Farbtupfern Akzente oder bevorzugen kleine, dezente Erkennungszeichen wie Thors Hammer und Lebensrunen. Eine sofortige Zuordnung zur Naziszene ist oft nicht gewünscht. Lockmittel der Rechten ist eine Mischung aus Abenteuerlust, Brauchtumspflege und reaktionärem Frauenbild.

Speit und Röpke überzeugen durch einen nüchternen Tonfall, der vor allem durch den Verzicht auf Soziologenslang erfreut. Ist ihr Buch unübersichtlich und zu keiner eindeutigen Wertung bereit, so deshalb weil die Wirklichkeit rechter Frauen unübersichtlich, in Bewegung, vielgestaltig und nicht eindeutig definierbar ist. Was rechte Frauen eint, ist ihre sträfliche Unterschätzung durch Öffentlichkeit und Behörden.

Andrea Röpke /Andreas Speit
Mädelsache!
Frauen in der Neonazi-Szene
Ch. Links, Berlin, 2011, 240 Seiten, 16,90 Euro
ISBN: 978-3-86153-615-4

März 2011 Letzte Tage in Coyacán. Bertrand Patenaude schildert Trotzkis Jahre im mexikanischen Exil

Buchvorstellung von Stefan Gleser

Der US-amerikanische Historiker Bertrand Patenaude wehrt sich in seiner Biographie über den russischen Revolutionär und Schriftsteller Leo Trotzki tapfer gegen Unvermeidliches. Das macht sein Buch spannend Zum einem versucht sich der Mitarbeiter am konservativen Hoover-Institute, der mit Trotzkis Ansichten überhaupt nichts am Hut hat, lange gegen den Zauber, der von Trotzkis Prosa ausgeht, zu sträuben, um ihr am Ende zu unterliegen: „Trotzki war als literarischer Könner bekannt und arbeitete hart an seinem Stil. Er nutzte die von der russischen Syntax gewährte Freiheit und änderte die Anordnung der Wörter im Satz, um etwas zu betonen, eine Nuance zu setzen oder eine dramatische Wirkung zu erzielen. Er war nicht bereit, um der Präzision Willen den Stil zu opfern oder umgekehrt….“. Zum anderen konstruiert Patenaude geschickt ein ganzes Kuddelmuddel von Rückblenden, Einschüben und Abschweifungen damit Trotzkis bekanntes Ende, seine Ermordung, solange wie möglich hinausgezögert wird.

Um politisch und wirtschaftlich zu überleben, ist Trotzki auf vielfältige Verbindungen angewiesen. Und genau dies bietet dem sowjetischen Geheimdienst die Möglichkeit, Verschwörer einzuschleusen. Wie sich die Schlinge um Trotzkis Hals immer enger zusammenzieht, wie hinter jeder neuen Bekanntschaft sich ein Spion verbergen kann, wie man für jeden Ausflug in Trotzkis Vergangenheit dankbar ist, weil sie dem Helden des Buches noch ein paar Seiten Leben verschafft, wie Patenaude umkehrt und zaudert und noch einen neuen Verdächtigen vorstellt, wie ein Kugelhagel auf Trotzkis Haus das Buch eröffnet, wie sympathisch Ramón Mercader in Paris als zärtlicher Galan turtelt, – und er ist der künftige Mörder!- zeichnet Patenaude farbig, detailreich und mit dramatischer Wucht. Es ist schon peinlich, wenn ein Stanford-Professor einen besseren Agententhriller hinlegt als die Mehrzahl der deutschen Krimiautoren.

Nach Parteiausschluss, Verbannung und Ausweisung 1929 wurde die Erde, wie Trotzki schreibt, zu einem „Planet ohne Visum“. Von der Türkei über Frankreich und Norwegen schliesslich nach Mexiko. Präsident Lázaro Cárdenas nahm ihn, vielleicht um soziale Reformen durchzuführen, ohne beim nördlichen Nachbarn in Verdacht zu geraten, dabei von der Sowjetunion beeinflusst worden zu sein, auf.

Auch in Mexico musste Trotzki die entscheidende Frage beantworten: „Wie haben Sie die Macht verloren?“ Wie wurde aus dem Schöpfer der Roten Armee der Flüchtling? Max Eastmann, der Trotzki ins Englische übertrug, gibt eine Erklärung für die Niederlage gegenüber Stalin: „Trotzki konnte genau so wenig eine Partei bauen wie ein Huhn ein Haus.“ In dieser Unfähigkeit verbergen sich zwei Tugenden Trotzkis. Trotzkis Vater schuftete sich als Analphabet zum Landbesitzer hoch. Im Sohn steigern sich Tatkraft und Fleiss zur eisernen Pedanterie. Auf der ersten Seite seiner Biographie „Mein Leben“ erfährt der Leser, dass der Revolutionär grössten Wert auf Disziplin, Ordnung und Sauberkeit legt und ein hervorragender Schüler war. Allein schon die Vorstellung, Zeit zu verschwenden, um in Hinterzimmern oder Salons Absprachen oder Intrigen für eine Hausmacht zu schmieden, muss ihm fremd gewesen sein. Dazu seine intellektuellen Fähigkeiten, als junger Mann wollte er schon Literat werden und nannte sich die „Feder“, die ihn über die öde, alltägliche Verwaltung einer Partei erhoben. Vor der Oktoberrevolution pendelte Trotzki zwischen Menschewisten und Bolschewisten und lehnt Lenins Konzept einer Kaderpartei entschieden ab.
,
Trotzkis notwendige Selbsteinschätzung oder Selbstüberschätzung, in ihm strahle das reine geistige Feuer der Revolution und seine Beredsamkeit sei dem grauen, mittelmässigen Apparat letztendlich überlegen, fand er in der Anerkennung, die ihm Künstler und Intellektuelle schenkten, wiederum bestätigt.

Es war einer der ihren, der in einem gepanzerten Zug übers Land fuhr und dabei Romane las. Wort und Tat schienen bei ihm eins zu sein, die beliebten Diskussionen über Macht und Geist, König und Philosoph plötzlich schal geworden. Den us-amerikanischen Untersuchungsausschuss, der Stalins Vorwürfe gegenüber Trotzki überprüfen sollte, leitete der Philosoph John Dewey, ein Liberaler. Der französische Surrealist André Breton, der Trotzki besuchte, war ihm „verfallen“. Die Maler Diego Riviera und Frieda Kahlo zählten zu seinen Freunden und Förderer.

Trotzki war sein eigner Biograph und hatte durchaus literarisch ambitionierte Wegbegleiter. So hat Patenaude das Glück oder die Schwierigkeit aus vielen Quellen schöpfen zu können und schaut Trotzki aus wechselnden Perspektiven über die Schulter.

Trotzki erlebt kurze Momente des Glückes bei der Jagd und Fischerei. Zurückgekehrt an den Schreibtisch erzählt er uns dann von der Begegnung mit dem „Entenherzog“, einen hochspezialisierten Waldhüter aus den russischen Sümpfen, der für Schnepfen und Auerhühner keinerlei Interesse aufbringt, in dem nüchternen, unsentimentalen und respektvollen Ton den ein Bauernsohn gegenüber Tieren hat. Es folgt die anrührende Tragik, wenn Trotzki seine Kaninchen füttert und Kakteen pflanzt. Als ahne er seinen Tod voraus und wolle in die Kindheit zurück, zur harten Arbeit auf dem Hof des Vaters.

Patenaude sprengt zuweilen die Grenzen der Biographie. Man kann das Buch als Allegorie lesen, dass man die Lebenslinie eines Menschen nicht nach dem Glanz, den Ämter und Würden verleihen, beurteilen soll. Die Tochter Sina begann 1932 Selbstmord, der Sohn Lew starb in Paris 1937 unter ungeklärten Umständen, der Geheimdienst der ehemaligen Genossen verfolgt ihn und Trotzki rettet sich am Schreibtisch durch seine Schriften zu uns, während der Schauder seiner einst mächtigen Gegner in den Archiven verstaubt. Die „besiegte Sache“ (Isaac Deutscher)scheint die unmarxistischste aller unmarxistischen Thesen, wonach die Literatur eine gesellschaftliche Wirkung habe, zu bestätigen.

Trotzki hat ihn Patenaude einen Biographen gefunden, der ihm gefallen hätte. Patenaude fordert zum Wettkampf um die schönsten Formulierungen auf und erzählt persönlich, intelligent und voller Kenntnis.

Bertrand M. Patenaude
Trotzki
Der verratene Revolutionär
Aus dem Amerikanischen von Stephan Gebauer
Propyläen Verlag, Berlin 2010
ISBN-10 3549073771
ISBN-13 9783549073773
Gebunden, 432 Seiten, 24,95 EUR

 

März 2011 Braune Graswurzeln

Astrid Geisler und Christoph Schultheiss berichten wie der Rechtsextremismus den Alltag erobert

Buchvorstellung von Stefan Gleser

Wenn das Geld nicht mehr für Bier und Bockwurst beim Dorffest reicht, wenn der Kandidat der CDU als „Nestbeschmutzer“ gilt, weil er sich mit völkischen Wahn nicht arrangiert, wenn die letzten Reste örtlichen Kitts wie Bäckerei, Kneipe und Vereine verschwunden sind, wenn das Propangas für ´s Heizen mit dem Handkarren über die holprige Strasse gezogen wird, wenn vieles an Falladas „Bauern, Bonzen, Bomben“ und wenig an eine
selbstbewusste Bürgergesellschaft erinnert, dann sind wir in Bargischow, einem kleinen Ort in Mecklenburg-Vorpommern hart an der polnischen Grenze. Bei den Landtagswahlen 2006 war dort die NPD mit über 30 % die stärkste der Parteien. Kleine Fluchten aus dem Alltag wie Grillparties, Ausflüge und Zeltlager sind hier eine Angelegenheit der nationalen Kameraden des „Heimatbund Pommern“. Gute Voraussetzungen, dass die NPD bei den Septemberwahlen wieder im Schweriner Schloss vertreten sein wird.

Dass Rechtsextremismus nicht nur ein Problem vergessener Regionen und vergessener Menschen ist, davon kann Renate Sommer erzählen. Astrid Geisler und Christoph Schultheiss haben bei ihrer Tour quer durch Deutschland die Mutter eines jungen Neonazis in einer bayrischen Kleinstadt besucht. Die Sommers scheinen gegen das braune Gift erst mal gut geimpft zu sein. Der Vater hat sich zu einem selbständigen und erfolgreichen Maschinenbauer hochgearbeitet mit einem weltweiten
Kundenstamm. Der ältere Sohn studiert in England. Wenn Simon, der jüngste, ausländische Geschäftsfreunde des Vaters oder die
indischstämmige Freundin seines Bruders mit erlesener Höflichkeit
behandelte, dann glomm immer wieder Hoffnung, sein Abdriften in die Faschoszene, sei falschen Freunden oder der Pubertät geschuldet. Simon landete schliesslich wegen Brandstiftung im Knast. Heute blickt Renate Sommer mit Verbitterung zurück, wie Jugendamt und Polizei Simons Nazikarriere als altersbedingte Auflehnung gegen das Elternhaus, die sich von selbst wieder legen würde, schönredeten.


Die Erfolge der Klassenkameraden in den Niederlanden und der Schweiz locken. So versucht eine schwarzbraune Truppe von enttäuschten Rechtskonservativen bis zu Neonazis mit Islamfeindlichkeit zu punkten. Als Zentralorgan und Klammer fungiert dabei der Webblog „Politically Incorrect“ (PI). Er gehört zu den am häufigsten aufgerufenen politischen Seiten Deutschlands. Wie sein Erbfeind, der türkische Ramschladen um die
Ecke, hat PI so ziemlich alles im Angebot: Den gut situierten
Lodenmantel, der sein Abitur Gassi führt und um die letzten Werte des christlich-abendländischen Kulturkreises ringt und ein paar Mausklicks weiter den Amoklauf des anonymen Mobs.


Geisler und Schultheis bestechen mit einer neuen Arbeitsweise. Sie
reisten dorthin, wo der Skandal war, wo es noch vor kurzem von
Mikrophonen und Kameras nur so wimmelte. Die Gemeinde Halberstadt fiel unangenehm auf, als der Liedermacher Konstantin Wecker nach NPD-Drohungen ein Konzert absagen musste, als Schauspieler nach Vorstellungsende brutal überfallen wurden. Jetzt hat sich die Aufregung gelegt, jetzt ist die Justiz in bester Tradition wieder auf dem rechten Auge blind, jetzt ist der braune Trott eingezogen und ein Gericht tut rechtsextreme Gewalttaten als „jugendtypische Verfehlung“ ab. Etwas weiter westlich von Halberstadt sonnte sich Delmenhorst bundesweit im
Erfolg, den Ankauf eines Hotels durch den nazistischen Anwalt Jürgen Rieger verhindert zu haben. Heute ist Delmenhorst eine Hochburg neofaschistischer Aktivitäten in Niedersachsen, was wiederum der Presse vollkommen egal ist. Die beiden Autoren hecheln also nicht dem provozierten Skandal und dem geplanten Tabubruch der Nazis hinterher, sondern registrieren ruhig und gelassen den ganz gewöhnlichen Faschismus. „Denn das Extreme lässt sich leicht stigmatisieren, das Alltägliche hingegen kaum bekämpfen“. Die Rechte ist wesentlich präsenter, als es uns die Zeitung n glaubhaft machen will. Und so hat sich der freundlich grüssende Rassist von nebenan „cool“ und „trendig“ in der Mitte der Gesellschaft bequem gemacht.


Astrid Geisler und Christoph Schultheis: „Heile Welten“. Rechter Alltag in Deutschland - Carl Hanser Verlag, München 2011. 224 S., br., 15,90 €.
ISBN: 978-3-446-23578-6