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FRANKFURT
DIE SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT PRÄSENTIERT DIE IM WESTEN NOCH WENIG
BEKANNTE MOSKAUER KONZEPTKUNST
DIE TOTALE AUFKLÄRUNG
MOSKAUER KONZEPTKUNST 1960–1990
21. JUNI – 14. SEPTEMBER 2008

Die Kunst des Moskauer Konzeptualismus entstand bereits Ende der 1960er Jahre, wobei in den Aktionen, Installationen und Texten der Moskauer Konzeptualisten die Bilderwelten der sowjetischen Ideologie kritisch reflektiert wurden. Da das Kunstleben in der Sowjetunion einer strengen ideologischen Zensur unterstand, wurden die Aktivitäten der Künstlergruppe als eine Art politischer Provokation empfunden, eignete sie sich doch das Privileg der Interpretation von Kunst und Gesellschaft an, das allein der Kommunistischen Partei zustehen sollte. Die Ausstellung präsentiert rund 130 Werke von 30 Künstlern, darunter Erik Bulatov, Ilya Kabakov, Vitali Komar & Alexander Melamid, Alexander Kosolapov, Igor Makarevich, Elena Elagina, Andrei Monastyrski, Boris Mikhailov, Dmitri Prigov, Leonid Sokov und Vadim Zakharov. Die Schirn Kunsthalle Frankfurt leistete bereits
1992 mit der Ausstellung „Die große Utopie“ eine grundlegende Aufarbeitung der russischen Avantgarde und beleuchtete 2003 mit „Traumfabrik Kommunismus“ die daran anschließende Kunst der Stalinzeit. Mit der von Boris Groys kuratierten Ausstellung „Die totale Aufklärung“ zeigt die Schirn Kunsthalle nun die dritte Ausstellung über russische Kunst und hat damit die wichtigsten künstlerischen Entwicklungen, die im Verlauf des 20. Jahrhundert in Russland und in der Sowjetunion
stattgefunden haben, eingehend dokumentiert und analysiert.

In der russischen kunstinteressierten Öffentlichkeit gilt der Moskauer Konzeptualismus als wichtigste russische Kunstbewegung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er ist eine geschlossene, relativ klar definierte, sich von der übrigen russischen Kunst bewusst abgrenzende Bewegung, die über ihre eigene, für den russischen Betrachter leicht identifizierbare Ästhetik und sogar über eine quasi- institutionelle innere Organisation verfügt. Im Westen dagegen sind zwar einzelne Vertreter der
Gruppe wie Ilya Kabakov, Erik Bulatov, Vitali Komar und Alexander Melamid, Andrei Monastyrski,
Vadim Zacharov, Pavel Pepperstein und Juri Albert bekannt, eine kunsthistorische Einordnung der
Gruppe im Rahmen einer Ausstellung blieb bisher jedoch aus.
Der Moskauer Konzeptualismus entwickelte sich innerhalb der unabhängigen, inoffiziellen Moskauer
Kunstszene der 1960er, 1970er und 1980er Jahre. Diese Szene entstand fast unmittelbar nach dem Tod Stalins im Jahr 1953 in größeren Städten der Sowjetunion. Sie wurde von den zuständigen Behörden zwar toleriert, war aber vom offiziellen Ausstellungsbetrieb sowie von den staatlich kontrollierten Massenmedien fast vollkommen abgeschnitten. Der Name „Moskauer Konzeptualismus“
verweist einerseits auf die Moskauer Untergrundszene und andererseits auf die westliche, vor allem angloamerikanische Konzeptkunst der 1960er Jahre – auf die künstlerische Praxis der Gruppe „Art and Language“ und diejenige von Joseph Kosuth – die den Moskauer Konzeptualisten dank der westlichen Zeitschriften und Kataloge, die damals nach Moskau gelangten, wohlbekannt war.

Doch hat diese Praxis in Moskau eine grundlegende Transformation erfahren. Das Adjektiv „Moskauer“ ist also eher Programm als bloße Ortsangabe.
Der Charakter der Transformation, welche die Konzeptkunst in Russland erfahren hat, ergibt sich aus
den spezifischen Bedingungen, unter denen die Kunst in der Sowjetunion insgesamt funktionierte. Die
Konzeptkunst kann man kurz als das Ergebnis der Gleichsetzung von Bild und Text charakterisieren


Das Bild wird durch einen sprachlichen Kommentar, durch ein textuell beschriebenes Projekt, durch
eine kritische Stellungnahme ersetzt. Darin kann man im Weiteren eine Entmaterialisierung und somit
auch eine Entkommerzialisierung der Kunst sehen. Inzwischen ist freilich deutlich geworden, dass der
Text auch eine Art Bild ist, weil die Sprache ihre eigene Materialität hat – und dass die Konzeptkunst
das Kunstwerk deshalb weder in die Immaterialität noch in die Freiheit vom Kommerz führen kann.
Vielmehr kann die Konzeptkunst im Nachhinein als ein entscheidender Schritt zur Objektwerdung und somit zur Kommerzialisierung der Sprache gesehen werden. Auf jeden Fall aber war und bleibt das Verhältnis der Kunst zum Kunstmarkt – und zum Markt überhaupt – ein zentrales Thema für die westliche konzeptualistische Theorie und Praxis.

Nun gab es in der Sowjetunion keinen Markt und somit auch keinen Kunstmarkt. Der Wert eines Kunstwerks wurde nicht nach den Regeln der Marktökonomie, sondern nach den Regeln der symbolischen Ökonomie bestimmt, die das Leben in der Sowjetunion insgesamt ordnete. Der theoretische, philosophische, ideologische oder kunsthistorische Kommentar entschied somit
letztendlich über das Schicksal eines Kunstwerks – nicht sein Preis. Oder vielmehr zirkulierte der ideologische Text in der sowjetischen symbolischen Ökonomie, wie das Geld in der westlichen Marktökonomie zirkuliert. Man kann sagen: Die sowjetische Kultur war immer schon konzeptuell – und zwar in ihrer Gesamtheit. Der normale sowjetische Betrachter hat, wenn er ein Bild sah, ganz
automatisch und ohne von „Art and Language“ je gehört zu haben, dieses Bild innerlich durch seinen möglichen ideologisch-politisch-philosophischen Kommentar ersetzt, und er hat nur diesen Kommentar berücksichtigt, um das entsprechende Bild zu beurteilen – als sowjetisch, halb-sowjetisch, nicht-sowjetisch, anti-sowjetisch etc. Der Moskauer Konzeptualismus verstand sich somit als eine
Untersuchung der sowjetischen symbolischen Ökonomie – und nicht als eine Alternative zur Marktökonomie westlichen Typs.

In einer bestimmten Hinsicht erweist sich die Moskauer Konzeptkunst allerdings als der westlichen
Konzeptkunst ziemlich verwandt. Die angloamerikanische Concept Art der 1960er und 1970er Jahre beschäftigte sich vor allem mit der Frage „Was ist Kunst?“ Daher wird sie oft als Ausgangspunkt für die Institutionskritik gesehen. Nun war die Sowjetunion bekanntlich eine einzige bürokratisch verwaltete Institution. Die Unterscheidung zwischen kommerzialisierter Massenkultur und
institutionalisierter Hochkultur fehlte. Die sowjetische Kultur war einheitlich – und sie war ausschließlich institutionell geprägt. Die alltägliche Massenkultur war genauso zentralistisch, bürokratisch und institutionell verwaltet wie die Hochkultur – und wurde im Grunde nach den gleichen ideologisch korrekten Kriterien bewertet, anerkannt und verbreitet. Daher spielte der offizielle Diskurs darüber, was Kunst ist, in allen Bereichen der sowjetischen Kultur eine alles bestimmende Rolle. Das Hauptverfahren des Moskauer Konzeptualismus bestand darin, diesen offiziellen Diskurs privat, ironisch, profan zu benutzen, zu variieren und zu analysieren. In diesem Sinne praktizierte der
Moskauer Konzeptualismus Aufklärung – und zwar totale Aufklärung. Dabei benutzten die Künstler der ersten Generation des Moskauer Konzeptualismus der 1960er und 1970er Jahre wie Ilya Kabakov, Vitali Komar und Alexander Melamid, Dmitri Prigov oder Lew
Rubinstein vor allem die Sprache des „einfachen sowjetischen Menschen“. Die sorgsam ausgewählten und hundertmal zensierten Formulierungen der offiziellen sowjetischen Ideologie wurden durch ihren alltäglichen, „unkultivierten“ Gebrauch unweigerlich beschädigt und deplatziert und dabei mit allen erdenklichen rein privaten und unausgegorenen Meinungen vermischt. Vor allem
Ilya Kabakov und Dmitri Prigov schöpften in ihren Kommentaren zur eigenen und fremden Kunst
reichlich aus diesem Fundus des alltäglichen unkultivierten Theoretisierens, und dies oft auf höchst unterhaltsame Weise. Man kann sagen, dass der Moskauer Konzeptualismus die diskursive Massenkultur seiner Zeit zu seinem Gegenstand gemacht hat. Er war auf der einen Seite in der Tat eine Art Konzeptkunst. Aber noch viel mehr war er eine Art diskursiver Pop Art.

Die Moskauer Konzeptualisten organisierten wie fast alle avantgardistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts systematisch eine Gegenöffentlichkeit, die vor allem aus den Künstlern selbst und ihren Freunden bestand. Man traf sich regelmäßig, um neue Arbeiten und Texte zu diskutieren. Man gab eigene und internationale Publikationen heraus, man richtete Archive ein. Insbesondere Andrei Monastyrski und seine Gruppe „Kollektive Aktionen“, die ihre Aktivitäten Mitte der 1970er Jahre aufnahmen, haben dazu beigetragen, eine Art Selbstinstitutionalisierung des Moskauer
Konzeptualismus in Gang zu bringen. Monastyrski organisierte Performances, zu denen er andere
Künstler des Moskauer Konzeptualismus einlud und die akribisch, quasi-bürokratisch dokumentiert, kommentiert und archiviert wurden. Darüber hinaus hat Monastyrski viele junge Künstler wie Pavel Pepperstein, Vadim Zacharov oder Juri Albert in die Aktivitäten der Gruppe involviert und damit den Moskauer Konzeptualismus an die nächste Generationen weitergegeben.

Nach dem Ende der Sowjetunion im Jahr 1991 lösten sich auch alle staatlichen sowjetischen Institutionen de facto auf – oder wurden irrelevant. In der postsowjetischen Zeit hat die Tradition des Moskauer Konzeptualismus daher eine besondere Bedeutung bekommen, denn diese Gruppe, die
auch Kuratoren und Kunstkritiker umfasste, bildete die Keimzelle für die Entstehung einer neuen unstöffentlichkeit im neuen Russland.

Eine Ausstellung der Schirn Kunsthalle Frankfurt und der Fundación Juan March, Madrid. „Die Totale Aufklärung. Moskauer Konzeptkunst 1960–1990“ wird vom 10. Oktober 2008 bis 11. Januar 2009 in der Fundación Juan March, Madrid, gezeigt. KÜNSTLERLISTE: Juri Albert, Sergei Anufriev, Grisha Bruskin, Erik Bulatov, Ivan Chuikov, Elena Elagina, Andrei Filippov, Ilya Kabakov, Georgy Kizevalter, Kollektive Aktionen, Komar & Melamid, Alexander Kosolapov, Juri Leiderman, Igor Makarevich, Medizinische Hermeneutik, Boris Mikhailov,
Andrei Monastyrski, Nikolai Panitkov, Pavel Pepperstein, Victor Pivovarov, Dmitri Prigov, Lew Rubinstein, Leonid Sokov, Vadim Zakharov. KATALOG: „Die totale Aufklärung. Moskauer Konzeptkunst 1960–1990“. Herausgegeben von Boris Groys, Max Hollein und Manuel Fontán del Junco. Mit einem Vorwort von Max Hollein und Manuel Fontán del Junco, Texten von Ekaterina Bobrinskaya, Manuel Fontán del Junco, Boris Groys, Martina Weinhart und Dorothea Zwirner sowie Künstlertexten von Ilya Kabakov und Andrei Monastyrski. Deutsch-englische Ausgabe, 440 Seiten mit 150 farbigen Abbildungen, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, 2008, ISBN 978-3-7757-2124-0, 29,80 € (SCHIRN) / 39,80 € (Buchhandel).
AUSSTELLUNGSARCHITEKTUR: KUEHN MALVEZZI, Berlin. ORT: SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT, Römerberg, D-60311 Frankfurt.
DAUER: 21. Juni – 14. September 2008. ÖFFNUNGSZEITEN: Di., Fr. – So. 10–19 Uhr, Mi. und Do. 10–22 Uhr. INFORMATION: www.schirn.de, E-Mail: welcome@schirn.de, Telefon: (+49-69) 29 98 82- 0, Fax: (+49-69) 29 98 82-240. EINTRITT: 8 €, ermäßigt 6 €; Eintritt für Kinder unter 8 Jahren frei.
Familienticket 16 €, Kombiticket mit den Ausstellungen „Terence Koh. Captain Buddha“ und „Michael
Sailstorfer. 10 000 Steine“ 12 €, ermäßigt 9 €. ÖFFENTLICHE FÜHRUNGEN: Dienstag 17 Uhr,
Mittwoch 11 Uhr, Donnerstag 19 Uhr, Samstag und Sonntag 15 Uhr. KURATOR: Prof. Dr. Boris
Groys (Karlsruhe/New York). PROJEKTLEITUNG: Dr. Martina Weinhart (Schirn).
AUSSTELLUNGSASSISTENZ: Sylvia Metz (Schirn). MEDIENPARTNER: hr2 kultur.
PRESSE: Dorothea Apovnik (Leitung),
Michaela Hille (Pressesprecherin), Gesa Pölert.
SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT, Römerberg, D-60311 Frankfurt,
Telefon: (+49-69) 29 98 82-118, Fax: (+49-69) 29 98 82-240,
E-Mail: presse@schirn.de, www.schirn.de

Frankfurt - Moskau 2008, B.Rausch