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11.02.2012 Das große Versehen

Berlinale: Im Juni 1992 wurden in Vorpommern zwei Roma erschossen. Der Film »Revision« übernimmt die Rolle der Justiz

Von F.-B. Habel

»Die Betroffenen hätten ihre Ansprüche schriftli
»Die Betroffenen hätten ihre Ansprüche schriftlich geltend machen müssen«
Aus Rumänien ist zur Urteilsverkündung niemand angereist«, meldet dpa lapidar, als die Schützen fast zehn Jahre nach der Tat mangels Beweises freigesprochen werden. Sie haben im Juni 1992 zwei Roma auf einem Getreidefeld nahe der deutsch-polnischen Grenze erschossen; zwei von 14 687 (!) Menschen, die laut einer Statistik der NGO Fortress Europe zwischen 1988 und 2009 entlang der europäischen Grenzen starben. Philip Scheffner greift in der Sektion Forum, in der er 2010 mit seinem Afghanistan-Film »Der Tag des Spatzen« Aufmerksamkeit erregte, den Fall zweier Familienväter auf, Roma aus Rumänien, die in der Nähe von Nadrensee in Vorpommern von Jägern vorgeblich versehentlich erschossen wurden. Kann es eine Verwechslung mit Wildschweinen gewesen sein?

»Revision« heißt der Film. Eudache Calderar und Grigore Velcu hießen die Männer. Daß ihre Angehörigen nicht zum Prozeß nach Deutschland kamen, hat genau einen Grund. Obwohl ihre Namen in den Akten stehen und ihre Adressen noch heute gültig sind, hat es niemand für nötig befunden, sie zu informieren. Auch, daß ihnen eine Entschädigung aus einer Versicherung zugestanden hätte, wußten sie nicht. »Die Betroffenen hätten ihre Ansprüche schriftlich geltend machen müssen. Das taten sie nicht«, sagt ein Anwalt in die Kamera. Es liegt einiges im argen in Europa.

Scheffner macht, was die Ermittlungsbehörden versäumten. Er befragt Tatzeugen und die Familien der Opfer, filmt, wie vor Ort die Lichtverhältnisse zur Tatzeit geklärt werden. So manche Ungereimtheit kommt da zur Sprache. Scheffner spricht auch mit dem Journalisten Lutz Panhans, ohne dessen mutige Berichterstattung das Verfahren schon Mitte der neunziger Jahre eingestellt worden wäre. Offenbar sind wir so weit, daß Journalisten und Filmemacher die Arbeit der Justiz übernehmen müssen.

Endlich wird in »Revision« auch der Anfang der Geschichte recherchiert. Er führt nach Gelbensande im Rostocker Umland, wo zu Beginn der 90er Jahre eine der beiden Familien eine Zeitlang lebte. Sie waren Asylbewerber. Die Großmutter starb und wurde hier beerdigt.

Man erinnert sich an den Mob, der damals in Rostock-Lichtenhagen unter dem Beifall von Anwohnern gegen Asylbewerber Front machte. Auch das Grab der alten Roma-Frau in Gelbensande wurde verwüstet, wiederhergerichtet und wieder verwüstet. Der Pfarrer konnte wenigstens das Grabkreuz retten. Als ihre Familie wieder in Rumänien lebte, beschloß sie, die Großmutter umzubetten. Dafür kam ihr Sohn nach Deutschland zurück und fand hier den Tod.

Nur zögernd erzählen die Familienmitglieder die Geschichte ihrer Männer und Väter, die ihnen bis heute fehlen. Die jüngeren Männer verdingen sich mangels Alternativen weiter als Saisonarbeiter in Deutschland, um für den Rest des Jahres ein Leben in bitterer Armut in Rumänien fristen zu können. Scheffner ist der erste Deutsche, der nach ihrer Geschichte fragt.

Wie sich das Gespinst von Verdrängungen und Verdrehungen durch die Aussagen der Zeugen und Angehörigen langsam entwirrt, ist spannend. Bewegend die Gesichter, in die wir durch Bernd Meiners’ Kamera sehen. Scheffner konfrontiert seine Interviewpartner mit ihren Aussagen, läßt nach-denken, Details ergänzen. Die beiden Täter wollten nicht vor die Kamera. Scheffner urteilt nicht, aber das Urteil, das er dem denkenden Zuschauer überläßt, ist – besonders im Hinblick auf die deutsche Justiz – eindeutig.

»Revision«; Regie: Philip Scheffner, D 2012, 106 min, 12., 16., 17., 19.2.

aus junge welt